Entlastung im Alltag durch vier Arten von Aufmerksamkeit

In meinem Artikel Open Focus – Entspannung in der Erfahrung des Raums habe ich darüber berichtet, dass uns unsere dauerhaft verengte Aufmerksamkeit überlastet und Stress bewirkt, den man durch die Erweiterung seines Focus auflösen kann. Les Fehmi unterscheidet in seinem Buch The Open Focus Brain. Harnessing the Power of Attention to Heal Body and Mind* in vier Arten der Aufmerksamkeit, zwischen denen wir über den Tag fließend und je nach Anforderung wechseln sollten, um unser Gehirn nicht zu überlasten. Mir hat es gut getan, dass ich mir diese vier Arten der Aufmerksamkeit ins Bewusstsein geholt habe. Alle vier waren mir in gewisser Hinsicht vertraut, aber die beiden anstrengenden waren die Hauptmodi, in denen ich bisher gelebt habe, während die beiden entspannenden nur recht selten vorkamen und ich sie auch nur mit Mühe bewusst herbeiführen konnte. Kein Wunder also, wenn das Leben dann besonders für hochsensible Menschen recht anstrengend werden kann – die meisten von uns setzen ihre Aufmerksamkeit nicht gehirngerecht ein.

Zwei Achsen der Aufmerksamkeit

Zunächst unterscheidet Les Fehmi in zwei Achsen der Aufmerksamkeit:

Objektiv versus vertieft

Unsere Aufmerksamkeit kann erstens zwischen objektiv und vertieft schwanken. Objektiv heißt, dass man klar zwischen sich und dem Objekt der Aufmerksamkeit trennt; vertieft ist man, wenn man sich als Teil eines größeren Ganzen empfindet und keine klare Trennung mehr zwischen dem Wahrgenommenen und dem Selbst stattfindet.

Wir alle kennen diese Zustände: Wenn wir z.B. auf die Erledigung einer Aufgabe konzentriert sind, unterscheiden wir ganz klar zwischen der Aufgabe und dem, was wir tun. Das entspricht dann der objektiven Aufmerksamkeit. Betrachten wir jedoch einen Film, der uns mitreißt, kann es geschehen, dass wir so vertieft ins Geschehen sind, dass wir uns beim Nachspann erst wieder in der Realität zurechtfinden müssen, weil wir uns selbst vollständig vergessen haben. Dies erklärt übrigens auch, warum es manchmal gut tut, einen schönen Film anzusehen: Wir switchen in diesem Moment in eine andere Art der Aufmerksamkeit und tun unserem einseitig belasteten Gehirn damit etwas Gutes.

Eng versus diffus

Die zweite Achse stellt einen fließenden Übergang zwischen enger und diffuser Aufmerksamkeit dar. Eng heißt, dass wir so sehr auf eine Sache konzentriert sind, dass wir alles andere ausblenden. Bei der Bildschirmarbeit kann das bedeuten, dass wir nur noch den Bildschirm wahrnehmen, weder hören noch sehen, was sich darum herum noch abspielt und unser Körpergefühl ausblenden. Ein solcher verengter Focus ist gut, um schwierige Aufgaben zu meistern. Doch er kann auch Schaden anrichten: Über längere Zeit angewandt, überfordern wir unser Nervensystem und vernachlässigen unsere körperlichen Bedürfnisse. Oder wenn wir uns z.B. in einer Auseinandersetzung befinden, kann ein verengter Focus dazu führen, dass wir nur noch das Negative an unserem Gegenüber wahrnehmen und alles Wohlmeinende überhören.

Ein diffuser Focus ist eher panorama-artig. In seiner extremsten Ausprägung ist er inklusiv, dreidimensional und gibt allen internen und externen Stimuli den gleichen Raum. Dazu kommt noch die Wahrnehmung des Raums, der Stille und der Zeitlosigkeit, in der diese Dinge in Erscheinung treten. Es gibt kein hervorstechendes Ziel der Aufmerksamkeit, und die Unterschiede zwischen Objekt und Hintergrund lösen sich auf.

Vier Quadranten der Aufmerksamkeit

Die beiden Aufmerksamkeitsachsen lassen sich frei fließend miteinander kombinieren, wodurch sich vier grundsätzliche Aufmerksamkeitsarten ergeben:

4AufmerksamkeitsartenDie eng-objektive Aufmerksamkeit

Dies ist der Aufmerksamkeitsstil, den wir am meisten favorisieren und der auch gesellschaftlich von uns gefordert wird. Es handelt sich dabei um eine schnelle, energiegeladene Gehirnaktivität, die sich im EEG als mittlere bis hohe Beta-Wellen messen lässt und primär von der linken Gehirnhälfte organisiert wird. Im eng-objektiven Focus nehmen wir ein begrenztes Feld an Reizen wahr, überwiegend visuelle, auditive und kognitive Stimuli, während wir Körpergefühle, Emotionen und andere Sinneswahrnehmungen ausschließen. Eine Sache steht im Vordergrund, während für den Hintergrund wenig bis gar keine Bewusstheit vorhanden ist. In diesem Fokus können wir dringende und wichtige Aufgaben erledigen, er ist jedoch ein Notfallmodus, der dem Gehirn Höchstleistungen abverlangt.

Die diffus-objektive Aufmerksamkeit

In dieser Aufmerksamkeitsform schließen wir ein weites Feld der Aufmerksamkeit ein, bleiben aber objektiv und losgelöst von unserer Erfahrung. Wir haben eine generelle Bewusstheit über Raum, Stille, Geist und Zeitlosigkeit, mit der wir aber nicht verschmelzen, sondern uns dem als Individuum gegenübergestellt sehen. Dieser Aufmerksamkeitsstil ist typisch für gut gelerntes Verhalten, in dem wir durch viel Übung eine gewisse Meisterschaft errungen haben. Beispiele dafür sind, wenn wir in einem Orchester spielen, Auto fahren, sportliche oder künstlerische Leistungen erbringen etc. All das sind Situationen, in denen wir in einem erweiterten Focus eine Reihe von Stimuli einschließen, während wir eine distanzierte Perspektive auf unsere Leistung beibehalten.

Die diffus-vertiefte Aufmerksamkeit

Diese Aufmerksamkeitsform stellt das beste Gegenmittel zum eng-objektiven Stil dar, den unsere Kultur uns ständig abzuverlangen scheint. Diffus-vertiefte Aufmerksamkeit ist die effektivste Art, uns vom akkumulierten physischen und psychischen Stress unseres modernen Lebens zu erholen. In diesem Aufmerksamkeitsstil begeben wir uns in eine Einheit mit unserer Erfahrung und erweitern und zerstreuen gleichzeitig ihren Umfang. Ein Bewusstheitszustand mit derartigen Qualitäten ist für unsere Kultur sehr ungewöhnlich. Meist assoziieren wir solche Erfahrungen mit extremer Kreativität, Liebe und spirituellen Fähigkeiten. Die Grenzen von Zeit und Raum scheinen sich in einem diffus-vertieften Aufmerksamkeitsschwerpunkt aufzulösen oder verlieren zumindest ihre klare Definition.

Die eng-vertiefte Aufmerksamkeit

Dieser Aufmerksamkeitsstil geht mit einer Kombination von hohen und niedrigen Gehirnfrequenzen einher und erlaubt es uns, eine Erfahrung sowohl zu genießen als auch zu intensivieren. Wenn wir in einer Aufgabe oder Arbeit ganz aufgehen und den Sinn für Zeit in diesem Prozess verlieren, ist das auch eng-vertiefte Aufmerksamkeit. Jede Art von Flow-Erleben gehört zu diesem Quadranten. Aber Vorsicht: Auch im Flow-Erleben vergessen wir unsere körperlichen Bedürfnisse!

Wer das alles genauer nachlesen möchte, wird hier fündig: Les Fehmi, The Open Focus Brain. Harnessing the Power of Attention to Heal Body and Mind*, Boston 2007, S. 47ff

Gerade Hochsensible brauchen Abwechslung!

Unsere Kultur verlangt von uns eine Dauertätigkeit in eng-objektiver Aufmerksamkeit. Diese ist jedoch für unser Gehirn höchst anstrengend und eigentlich nur als Notfallmodus für das Erledigen dringlicher Aufgaben und das Meistern überlebenswichtiger Extremsituationen gedacht.

Aus diesem Grund sollten gerade hochsensible Menschen, die sich ständig am Limit ihrer geistigen Leistungsfähigkeit bewegen, weil sie in einer Umgebung zurecht kommen müssen, die für sie reizüberflutend ist, auch andere Arten der Aufmerksamkeit  erlernen, damit sie je nach Bedarf zwischen diesen hin und her wechseln können. In meinem Artikel Open Focus – Entspannung in der Erfahrung des Raums findest Du einige Links, wo Du kostenlose mp3-Übungen herunterladen kannst.

Bei mir war es so, dass ich meist den ganzen Tag in der eng-objektiven und in der eng-vertieften Aufmerksamkeit verbracht habe. Den weiten Focus und Zustände der diffus-vertieften Aufmerksamkeit kannte ich nur vorübergehend, wenn ich meditiert habe; länger andauernd nur in Zeiten, wo ich von der Welt zurückgezogen gelebt habe. Ansonsten hat es mich sofort wieder in die engen Aufmerksamkeitsstile gezogen.

Ich empfinde es als sehr hilfreich, jetzt auch im Alltagsgeschehen immer wieder in einen offenen Focus zu gehen, da ich auf diese Weise das, was ich in meinen zurückgezogenen Zeiten gelernt und erfahren habe, mit in meine Aktivität hineinnehmen kann. Dadurch finde ich auch mitten im Leben innere Ruhe, Klarheit und Erholung. Und mit der Übung wird das immer leichter.

Zurück zu hochsensibel sein
Clipart von dado9ch auf freesvg.org

Wie hilfreich war dieser Beitrag?

Klicke auf die Sterne, um zu bewerten:

Durchschnittliche Bewertung 5 / 5. Anzahl Bewertungen: 1

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

* Werbehinweis für Links mit Sternchen

Wenn du ein Produkt über einen mit Sternchen gekennzeichneten Link bestellst, bekomme ich eine kleine Provision. Dies hat keinen Einfluss darauf, wie ich ein Produkt bewerte. Ich empfehle hier nur Dinge, hinter denen ich zu 100 % stehe. Der Preis für dich bleibt selbstverständlich gleich. Vielen Dank für deine Unterstützung!

2 Gedanken zu „Entlastung im Alltag durch vier Arten von Aufmerksamkeit“

  1. Hallo Anne-Barbara
    Vielen Dank für diesen wertvollen Artikel. Ich habe beim Lesen gemerkt, dass ich automatisch angefangen habe, mich in diesen Entspannungs- Zustand im Alltag zu begeben. Anstatt von A nach B zu stressen, spaziere ich zum Beispiel bewusst durch die Stadt und beobachte und betrachte das geschäftige Treiben der Menschen und gleichzeitig die Ruhe der Natur und Gegenstände und atme bewusst tief. Ich rechne jetzt auch genügend Zeit ein, damit ich nicht in Stress komme – früher war ich immer spät dran und allein deshalb schon gestresst.
    Bei der Arbeit finde ich es immer noch schwierig daran zu denken, dass ich nicht oberflächlich atme und fast permanent körperlich angespannt bin. Es gibt immer so viel zu tun, dass ich mich sehr leicht vergessen kann.
    Wenn es mir jedoch gelingt, während der Arbeit eine lockere Körperhaltung einzunehmen und die Dinge objektiver zu betrachten, brauche ich nach der Arbeit viel weniger Regenerationszeit. Deswegen ist es schon sehr motivierend, dran zu bleiben und nicht aufzugeben ;)

    Antworten
    • Liebe Deborah,

      vielen Dank für dein nettes Feedback, das mich sehr freut! :-) Wow, da warst du ja tatsächlich schon von allein auf diese Arten der Aufmerksamkeit gekommen. Schön, dass du in diesem Blog-Artikel noch eine Bestätigung gefunden hast und dich darin bestärkt fühlen darfst! Und du hast vollkommen Recht: Dranbleiben und nicht aufgeben! Es gibt für alle Herausforderungen, die wir als hochsensible Menschen zu meistern haben, Lösungen…

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

Schreibe einen Kommentar

hochsensibel sein DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner