Hochsensibilität und Abgrenzung

Aufgrund unserer erniedrigten Reizschwelle nehmen wir Hochsensible, ob wir es wollen oder nicht, mehr Information auf als der Bevölkerungsdurchschnitt. Wir haben eine dünnere Haut, und es geht uns vieles näher zu Herzen. Das ist nicht immer angenehm. Aus diesem Grund werde ich oft gefragt, ob man sich bei Hochsensibilität mehr Abgrenzung antrainieren kann und welche Übungen es dafür gibt. In meinem Blog-Artikel Der Regenschirmspaziergang – 5 Schritte für mehr Abgrenzung habe ich diesem Wunsch Rechnung getragen und eine Methode beschrieben, mit deren Hilfe man sich gegen Außenreize abschirmen kann, die für das eigene Leben mehr oder weniger irrelevant sind. Das ist auch vollkommen in Ordnung. Doch kann mehr Abgrenzung grundsätzlich die Lösung aller Probleme mit Hochsensibilität sein? Kann man sich Hochsensibilität irgendwie abgewöhnen, oder gibt es da Grenzen? Was ist in dieser Hinsicht der richtige Weg für hochsensible Menschen? Diese Frage möchte ich in diesem Artikel genauer beleuchten.

Abgrenzung bei Hochsensibilität neurobiologisch gesehen

Wenden wir uns doch zunächst noch einmal kurz den neurobiologischen Grundlagen der Hochsensibilität zu. Die Hochsensibilitätsforscherin Elaine N. Aron konnte bereits in den 1990er Jahren über die Zwillingsforschung die These erhärten, dass Hochsensibilität genetisch bedingt sein muss. Eine weitere Bestätigung findet diese These durch die jüngste Migräne-Forschung, wie ich bereits in meinem Artikel Hochsensibilitätsgen von der Migräneforschung gefunden? beschrieben habe:

Bei Migränepatienten fand man zwei besondere Gene. Das erste erzeugt alle Symptome der Hochsensibilität, indem es den Botenstoff Glutamat im Nervensystem erhöht und es dadurch beschleunigt. Das zweite ist nur für Migräniker relevant; es verlangsamt den Energiestoffwechsel in den Nervenzellen. Nur wenn beide Gene gemeinsam auftreten, kommt es zu Migräne. (D.h., jemand der Migräne hat, ist auf alle Fälle auch hochsensibel, während es durchaus Hochsensible gibt, die nicht unter Migräne leiden.)

Der durch das „Hochsensibilitätsgen“ bedingte erhöhte Glutamatspiegel bewirkt eine besonders hohe Wahrnehmungsempfindlichkeit und hohe Aktivierungsbereitschaft des Nervensystems. Die Übertragung der Nervenimpulse über den sog. synaptischen Spalt zwischen den Nerven erfolgt sehr schnell, nachhaltig und intensiv.

Bei Trägern dieses Gens konnte per EEG nachgewiesen werden, dass sie sich, im Gegensatz zu Menschen, die dieses Gen nicht aufweisen, aufgrund der hohen Aktivität ihres Nervensystems nicht an Geräusche gewöhnen können.

[Quelle: Hartmut Göbel, Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne, Springer 2012]

Es liegt also nah, dass Hochsensibilität eine neurobiologische Besonderheit darstellt. Das Gehirn hochsensibler Menschen funktioniert durch den erhöhten Glutamatspiegel ein wenig anders als das des Bevölkerungsdurchschnitts. Das heißt im Klartext: Die Empfindsamkeit und damit geringere Abgrenzung hochsensibler Menschen ist genetisch bedingt und stellt eine Realität auf der körperlichen Ebene dar – wir müssen uns so nehmen, wie wir sind.

Statt Abgrenzung lieber den Vorwärtsgang einlegen

Sicher können wir mit Übungen wie dem Regenschirmspaziergang in begrenztem Umfang lernen, eine gewisse Abgrenzung zu erreichen, mit deren Hilfe wir unser Gehirn nicht unnötig mit irrelevanten Reizen belasten. Doch auf die Dauer gesehen ist uns eine solche Vorgehensweise wesensfremd und geht gegen unsere Hochsensibilität.

Nun beweist ja die Tatsache, dass es uns gibt, dass unsere Urahnen mit dieser genetischen Variante auch ohne eine besonders gute Abgrenzung äußerst überlebensfähig waren und es damit eine Bewandtnis haben muss. Wir sollten also damit aufhören, den Rückwärtsgang einzulegen, indem wir uns ständig vor unseren Wahrnehmungen und Emotionen fürchten, um stattdessen den Vorwärtsgang einzulegen.

Das heißt, nicht das, was wir alles wahrnehmen und fühlen ist das Problem, sondern dass wir diese Dinge nicht schnell genug einordnen und verarbeiten können. Und während es angesichts eines von Glutamat gepushten und hochaktiven Nervensystems unmöglich ist, sich dauerhaft zu desensibilisieren, gehen solche Lernprozesse damit gerade einfacher. Wir sollten also lernen, unseren Rennwagen zu steuern, statt uns ständig nach einem Truck zu sehnen.

Durchstarten mit Hochsensibilität und nicht dagegen

Meine Erfahrung ist, dass ich immer krank geworden bin, wenn ich mich in irgendeiner Form abhärten oder desensibilisieren wollte. Funktioniert hat mein Leben immer dann, wenn ich mich bedingungslos auf meine Hochsensibilität und das, was in mir vor sich geht, eingelassen habe. Ich musste lernen, was das alles zu bedeuten hat, was in mir vor sich geht, und wie ich das verarbeiten kann. Darin bin ich immer schneller und besser geworden. Und in dem Maß, wie ich das gelernt habe, hat sich mein Leben stetig verbessert.

Der richtige Umgang mit Hochsensibilität besteht nach meiner Erfahrung, auch in meinen Coachings, in einem Lernprozess, der am Ende dazu führt, etwas mit dieser Veranlagung zu machen, statt sie zu unterdrücken. Ich denke, dass man nur so in seine wahre Stärke kommen und sein Potenzial als hochsensibler Mensch verwirklichen kann. Denn „So wie die anderen Sein“ können die anderen einfach besser als wir. ;-)

Drei Tipps zum Thema Hochsensibilität und Abgrenzung

1. Problemcheck: Geht es wirklich um Hochsensibilität?

Hochsensibilität geht mit einem erhöhten Risiko für stressbedingte Erkrankungen einher. Wenn z.B. jemand ein Trauma erfahren hat, reagiert er sehr viel empfindlicher auf bestimmte Trigger-Reize, die dann Flashbacks auslösen können. Das ist kein Problem von Hochsensibilität und Abgrenzung, sondern gehört in den Bereich der posttraumatischen Belastungsstörungen. Und hier hilft nur Therapie weiter; mehr dazu in meinem Artikel Trauma und Hochsensibilität.

Hochsensibilität ist auch ein Risikofaktor für bestimmte Persönlichkeitsstörungen. Diese führen in der Folge zu weiteren besonderen Empfindlichkeiten, die dann nichts mehr mit Hochsensibilität und Abgrenzung zu tun haben. Persönlichkeitsstörungen werden vom Betroffenen selbst meist nicht bemerkt, denn sie erzeugen keinen Leidensdruck. Wenn man z.B. immer wieder die gleichen Konflikte mit anderen erlebt, oder merkt, dass man mit anderen gar nicht klar kommt, kann das ein Symptom für eine Persönlichkeitsstörung sein. Wer sicher gehen will, kann sich testen lassen, z.B. mit Hilfe des PSSI nach Kuhl und Kazén.

2. Relevanz-Check: Wie wichtig ist das, was mir nah geht?

Wenn man sich nach einem simplen Einkauf schon völlig erschöpft fühlt, weil man bei jeder Zufallsbegegnung bemerkt hat, wie es diesem Menschen geht, und sich noch fürchterliche Sorgen um den Obdachlosen, der um ein Almosen gebettelt hat, gemacht hat, nimmt man zu viel irrelevante Information auf. In diesem Fall helfen Übungen zur Abgrenzung wie z.B. der Regenschirmspaziergang weiter. Oder man entscheidet sich dafür, sich aktiv für Obdachlose zu engagieren. ;-)

Doch gehen einem bestimmte Spannungen in der Beziehung, mit Freunden oder am Arbeitsplatz besonders nah, handelt es sich um wirklich relevante Themen. Hier wäre es völlig fehl am Platz, sich abzuschirmen oder in die Abgrenzung zu gehen. In diesen Fällen bitte den Vorwärtsgang einschalten, auf das hören, was einen da so intensiv beschäftigt und es wirklich sortieren.

3. Den Verarbeitungsprozess beschleunigen

Es gibt viele Methoden, wie man den Verarbeitungsprozess mental und energetisch beschleunigen kann. Eine davon ist EFT; wie das geht, ist in meinem Artikel EFT – emotionale Freiheit für Hochsensible nachzulesen. Vertiefen kann man diese Kenntnisse im Gratis Online-Kurs für Hochsensible. Es gibt weitere gute Techniken im Bereich NLP (neurolinguistisches Programmieren).

Eine sehr gute Möglichkeit bietet auch Open Focus. Die Grundtechnik habe ich in meinem Artikel Open Focus – Entspannung in der Erfahrung des Raums beschrieben. Mit Open Focus geht aber noch weit mehr – man kann damit Schmerz oder andere Erregungszustände gezielt  auflösen. Wie das geht, werde ich in einem meiner nächsten Blog-Artikel beschreiben.

Am Ende führt das zu einer Sicherheit, die einem dabei hilft, klar und ruhig Stellung zu beziehen bzw. geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Und das ist dann eine Form der Abgrenzung, die aus einer inneren Reife und Souveränität erwächst, und nicht auf einer falsch verstandenen Sehnsucht nach mehr Gleichgültigkeit. Denn dass uns Dinge nah gehen und wir dann in der Tiefe nach Lösungen suchen, ist Teil unserer besonderen Gabe.

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