Ja oder nein zur Welt? Hochsensibilität und Spiritualität

Aufgrund unserer erniedrigten Reizschwelle sind wir hochsensible Menschen einfach offener für Schwingungen aller Art. Nicht allen, aber vielen Hochsensiblen ist Spiritualität deshalb ein großes Anliegen. Viele sind in diversen Glaubensgemeinschaften aktiv, viele pflegen eine weltanschaulich freie Spiritualität oder interessieren sich brennend für philosophische Fragen nach dem Menschsein an sich und unserem Sinn hier auf Erden. Manche sind so feinfühlig, dass sie spirituelle Erlebnisse haben, Erscheinungen und Visionen bis hin zur Hellsichtigkeit; auch Nahtoderlebnisse sind keine Seltenheit. Solche Menschen sind dann auf der Suche nach Antworten, was einem da wohl begegnet sein mag, wie man solche Erlebnisse einordnen kann und wie man zukünftig damit umgehen möchte. Welche Rolle soll unsere Spiritualität in unserem Leben spielen? Die Frage ist, wie viel Raum man diesen Dingen im Leben einräumen will und kann. Und hier steckt man schon mitten in einer der großen philosophischen Grundsatzfragen, die bereits seit Platon und Aristoteles diskutiert wird, der Frage nach der vita activa oder der vita contemplativa.

Die vita contemplativa

Die vita contemplativa, zu deutsch das in Betrachtung versunkene Leben, ist der latinisierte Begriff des bios theoreticos, der von Aristoteles geprägt wurde. Damit meint er das denkerische Leben des Philosophen, das er als die höchste Lebensform ansieht, auch wenn ihm klar ist, dass ein Philosoph auf Mäzene angewiesen ist und deshalb nicht jeder eine vita contemplativa führen kann.

Im Verlauf der christlichen Aristotelesrezeption wurde die vita contemplativa als eine Lebensform interpretiert, die sich rein auf Gott konzentriert. Thomas von Aquin meinte z.B., dass höchste Glückseligkeit erst nach dem Tod in der reinen Anschauung Gottes verwirklicht wird.

In der Tradition des Benedikt von Nursia beschreibt die vita contemplativa das mönchische Ideal eines zurückgezogenen Lebens, wie es z.B. die Eremiten in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten führten. Sie zogen in die Wüste, sprachen nicht mit anderen Menschen, fasteten und beteten. In dieser Ausprägung verlangt die vita contemplativa also die Abkehr von den weltlichen Dingen wie Reichtum, Ehre, Macht und Triebe. Gefordert wird die radikale Hinwendung zu Gott.

Die vita activa

Die vita activa, das aktive Leben, ist das Gegenstück zur vita contemplativa. Aristoteles sprach hier vom bios politicos als einem öffentlich engagierten Lebensstil. Bei der vita activa wird dem spirituellen Menschen ein tätiges, teilnehmendes und auf seine Umwelt einwirkendes Leben nahe gelegt.

Mit der vita activa wird später dann das christliche Ideal eines Lebens in tätiger Nächstenliebe bezeichnet, eines Lebens für andere. Die eigenen Bedürfnisse werden zurückgestellt, um sich Hilfsbedürftigen zuzuwenden. Diesem Ideal folgen heute noch die Mitglieder der tätigen Orden und die Mitarbeiter der Diakonie und der Caritas.

Die Philosophin Hannah Arendt hat 1958 eines ihrer Hauptwerke, „Vita activa oder vom tätigen Leben“, diesem Thema gewidmet. Sie fasst die drei menschlichen Grundtätigkeiten, Arbeiten, Herstellen und Handeln, unter dem Begriff der vita activa zusammen.

Hannah Arendt meint, dass die vita activa sowohl in der griechisch-philosophischen als auch in der christlichen Tradition vom Standpunkt der vita contemplativa her bestimmt gewesen sei, wobei die vita contemplativa der vita activa übergeordnet wurde. Die vita activa hatte nur eine beschränkte Anerkennung, die sie lediglich der Bedürftigkeit des lebendigen Körpers verdankt habe.

Arendt bezweifelt die hierarchische Ordnung dieser Unterscheidung und geht davon aus, dass die Tätigkeiten der vita activa denen der vita contemplativa weder überlegen noch unterlegen seien. [Quelle s.u.] Diesen Standpunkt halte ich persönlich für sehr vernünftig und praktikabel, weil er dem Einzelnen die weitestgehende Freiheit erlaubt, den für sich passenden Lebensstil zu wählen.

Elemente der vita acitva und der vita contemplativa im Buddhismus

Obwohl dieses Begriffspaar der abendländischen philosophischen und christlichen Tradition entstammt, lässt es sich auch gut auf andere Kulturkreise übertragen und ist nach meiner Erfahrung sehr nützlich zur Einordnung und Beurteilung eines jeden Weges, der sich vor einem auftun mag.

So gibt es beispielsweise auch im Buddhismus vergleichbare Strömungen: Der vita activa entspricht dort das tätige Mitgefühl, wie es im Mahayana-Buddhismus gelebt wird. Im Mahayana steht die Weiterentwicklung von Wissen sowie dauerhafte Liebe und Mitgefühl im Mittelpunkt, wodurch sowohl das eigene Leben als auch das der anderen bereichert werden soll.

Im Theravada steht hingegen die Beruhigung des Geistes und damit die Verhinderung von Leid im Mittelpunkt. Die dem Theravada zugehörige thailändische Waldmönchtradition führt beispielsweise ein weltabgewandtes Leben in Askese und Meditation, das weitgehend dem eremitischen Ideal der vita contemplativa entspricht. [Quellen s.u.]

Aktion aus der Kontemplation heraus – die Versöhnung beider Ansätze

Obwohl bereits die Philosophen der Antike eine gewisse Präferenz auf die vita contemplativa gelegt haben, hat in Wirklichkeit nie jemand daran gedacht, beide Prinzipien voneinander zu trennen und als klare Handlungsanweisung zu sehen. Bereits Platon strebte in seinem Reifewerk „Staat“ nach einer Vereinigung beider Lebensentwürfe, und auch Augustinus, einer der großen Kirchenväter, plädierte für eine Haltung, die aus beiden Wegen zusammengesetzt ist. Es ging also eher darum, das Ineinanderwirken beider Prinzipien optimal auszubalancieren.

Die Kirchenväter dachten sich das Aufeinanderbezogensein beider Lebensstile als einen Dreischritt: Dem Anfänger steht die vita activa zu, die später in die vita contemplativa übergeht. Doch die in der Kontemplation gewonnene Erkenntnis und Liebe führt dann wieder zum Handeln, also zur Aktivität, die am Ende wieder in der Kontemplation reflektiert wird und so fort.

Thomas von Aquin schreibt:

Vom tätigen Leben geht man zum beschaulichen über gemäß der Ordnung der Entstehung; vom beschaulichen Leben hingegen kehrt man zum tätigen zurück auf dem Wege der Lenkung, damit nämlich das tätige Leben durch das beschauliche gelenkt werde. So wird auch durch Tätigkeiten ein Habitus erworben, und durch den erworbenen Habitus ist man auf vollkommenere Weise tätig.

[zitiert nach Edgar W. Harnack, Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie: Die notwendige Versöhnung von Vita activa und Vita contemplativa, S. 3, aufgerufen am 25.8. 2015, leider nicht mehr online verfügbar]

Ja zur Welt und zur Kontemplation!

Es gibt in dieser Hinsicht also nicht den richtigen Weg. Manche Lebensphasen erfordern mehr Kontemplation, manche verlangen von uns, zu handeln. Und jeder muss auf sich sehen, ob man eher praktisch orientiert aus dem Tun heraus lernt, oder ob man lieber denkt und meditiert.
Aus beiden Faktoren, der Neigung des Einzelnen und der jeweiligen Lebensphase, ergibt sich individuell die richtige Mischung aus vita activa und vita contemplativa.

Es kann Phasen geben, in denen man sehr aktiv ist, und wieder andere Phasen, in denen die Kontemplation und der Rückzug aus der Welt wichtig für die persönliche Entwicklung sind. Am Ende steht wohl ein ausgewogenes Verhältnis zwischen beidem, so dass sich die Prinzipien der vita activa und der vita contemplativa bestmöglich gegenseitig befruchten und bereichern. Diese auf die eigenen Neigungen und Lebensphasen bezogene richtige Mischung zu finden ist meiner Meinung nach für hochsensible Menschen sehr wichtig und auch bei weltanschaulich freiem Denken praktikabel.

[Quellenangaben für diesen Artikel:
Vita activa und Vita contemplativa auf Wikipedia
Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie: Die notwendige Versöhnung von Vita activa und vita contemplativa von Edgar W. Harnack
Vita activa oder vom tätigen Leben (Zusammenfassung)
Die buddhistischen Wege
 auf Buddhanetz
Thaiändische Waldtradition auf Wikipedia]

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8 Gedanken zu „Ja oder nein zur Welt? Hochsensibilität und Spiritualität“

  1. „Diese auf die eigenen Neigungen und Lebensphasen bezogene richtige Mischung zu finden ist meiner Meinung nach für hochsensible Menschen sehr wichtig und auch bei weltanschaulich freiem Denken praktikabel.“ das empfinde ich auch so. fast lebenswichtig sogar. ich (als frau) kann dieses bedürfnis zwischen eher aktiv und eher passiv sowohl rückblickend auf bestimmte lebensphasen also auch allmonatlich im zyklus gut erkennen. und versuche immer, es auch entsprechend zu leben. dann ist das energielevel am höchsten und die gedankenwelt am fruchtbarsten :-) danke für den artikel!

    Antworten
    • Liebe Andrea,

      freut mich, dass Dich mein Artikel inspiriert hat! :-)

      Wahrscheinlich meinen wir das gleiche, ich möchte es nur noch einmal hervorheben: Kontemplation ist im Grunde genommen etwas sehr aktives, aber eben eine innere Aktivität, in der man sich auf bestimmte Werte, Gott, das Universum oder wie auch immer man es nennen möchte, ausrichtet. Also durchaus eine Passivität in der Hinsicht, dass man die Welt einmal außen vor lässt, um zu einer inneren Ruhe zu kommen, die es einem ermöglicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Aber eben keine Passivität im Sinne von Muße oder Nichtstun. Kannst Du das so teilen?

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  2. liebe barbara, jetzt muss ich wohl nochmal nachdenken:-) muße und nichttun setzen energie frei um inmichzugehen und dort, sozusagen im inneren gespräch, das erlebte und erfahrene der aktiven phase in den inneren kosmos einzuordnen und zu ver’wert’en und sich auszurichten. um dann in gereifter form wieder aufzutauchen und sich ggf. mit kurskorrektur im aktiven tun wieder der aussenwelt zuzuwenden. so vielleicht!?

    Antworten
    • Liebe Andrea,

      jetzt hast Du es aber ganz genau auf den Punkt gebracht, finde ich. Danke Dir dafür! :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  3. Dieser Artikel trifft genau einen Punkt meines Lebens, der mich lange umgetrieben hat. Irgendwann auf meiner Suche nach dem mir ganz eigenen Knacks, der es mir unmöglich machte mein Leben auf die Reihe zu kriegen, lies ich mir ein spirituelles Horoskop machen. Heraus kam dabei u. a., dass ich von 2 völlig gegensätzlichen Schwingungen regiert werde (man verzeihe mir die unprofessionelle Ausdrucksweise). Luftig leicht und zu tieft bewusst….
    Zunächst hatte ich mit der luftigen Leichtigkeit meine Probleme, wollte ich doch ein tiefgründiger Mensch sein.
    Also wieder Selbstzweifel.
    Aber dann stellte ich fest, dass es mir am besten geht, wenn ich beiden Seiten genügend Raum lasse. Warum auch nicht? Ist doch nur eine Sache der Bewertung.

    Jetzt hat mich das Leben an einen Arbeitsplatz geführt, an dem ich sehr bodenständige Inhalte an junge Menschen (Schulversager, von der Gesellschaft aufgegebene…) vermitteln darf und gleichzeitig durch meine Spiritualität helfen kann, dass diese jungen Menschen ein Stück weit ihren Wert als Mensch erkennen können – und damit meine ich nicht den gesellschaftlichen.
    Und das wiederum stärkt mich selbst in meinem Sein!
    Schön

    Antworten
    • Liebe Hildegard,

      was für eine wunderbare Geschichte, vielen Dank dafür! Ich bin gerührt und freue mich für diese jungen Menschen, dass sich jemand wie Du um sie kümmert. Wirklich richtig schön. :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  4. Liebe Anne-Barbara,

    wenn man an den Ursprung des christlichen Glaubens zurück geht, zu Jesus Christus, hat man das beste Beispiel eines hochsensiblen Menschen vor Augen, der vita activa mit vita contemplativa in Einklang brachte. Er erfüllte seine Berufung auf aktive Weise, zog sich jedoch immer wieder zurück, um das Gespräch mit Gott, seinem Vater, zu suchen. Er war sich sehr bewußt, wann die Zeit hierfür reif war und stieß damit so manchen seiner Nachfolger vor den Kopf. Nur so konnte er seine ihm zugedachte Rolle in Kraft ausfüllen.

    Mir persönlich führt dies vor Augen, dass wir einen guten Ausgleich finden können, sollen, dürfen zwischen unserem aktiven Leben und dem Bedürfnis des Zur-Ruhe-Kommens, des Auftankens und In-Sich-Gehens. Dass dies sogar eine Notwendigkeit darstellt, um nicht auszubrennen. Und, dass dies durchaus auch nicht immer in die Zeitplanung meiner Umwelt passt.

    Danke für die tiefsinnigen Beiträge.

    Herzliche Grüße
    Angelika

    Antworten
    • Liebe Angelika,

      vielen Dank für Deinen schönen und bereichernden Kommentar! Du hast hier wirklich ein wunderbares und sehr prominentes Beispiel gefunden. :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

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