Als hochsensibler Mensch ist man verletzlich. Da man dünnhäutig ist, geht einem vieles näher, als es vielleicht sein müsste. Auch nimmt man ein schädigendes Verhalten bereits im Ansatz deutlich wahr, noch bevor es zu ernsten Konsequenzen führt. Wir empören uns darüber schon, wenn andere Menschen das noch gar nicht nachvollziehen können. Die Gefühlslage, die daraus erwächst, ist nicht angenehm. Man gewinnt den Eindruck, dass einem am laufenden Band Schmerz zugefügt und man dann auch noch damit alleingelassen wird. Die damit verbundenen Emotionen von Ärger und Enttäuschung können sich verfestigen und uns hartnäckig verfolgen. In diesen Situationen kann Vergebung, wenn sie auf die richtige Weise erfolgt, unsere Verletzungen und die Beziehungen zu anderen Menschen heilen.
Warum ich früher Schwierigkeiten mit Vergebung hatte
Ich persönlich konnte mit Vergebung lange Zeit nicht wirklich etwas anfangen. Meine Einstellung dazu war, dass, wenn mir jemand etwas angetan hat, das eben passiert ist. Wie ich mit den Folgen klar komme, musste ich dann selbst sehen. Es kam vor, dass andere von mir Verzeihung einforderten, ohne dass sie etwas eingesehen bzw. Reue gezeigt hatten. Ich verspürte im Gegenzug nicht die geringste Lust dazu, diesen Menschen auf meine Kosten Erleichterung zu verschaffen, indem ich ihnen Absolution erteilte.
Dann gab es andere, Menschen mit einem therapeutisch-sprituellen Anspruch: Die sagten mir, Verzeihung gehöre zur Heilung. Wer nicht verzeiht, kann nicht geheilt werden. Auch sie forderten von mir, zu verzeihen. Das habe ich nicht verstanden, mir kam das eher moralisierend vor, nach dem Motto, wenn ich nicht verzeihe, bin ich ein schlechter Mensch. Richtig klar wurden mir die Zusammenhänge erst viel später.
Was bedeutet Heilung auf der seelischen Ebene? In Heilung steckt heil, was letztlich ganz sein bedeutet. Wenn mir jemand etwas angetan hat, entstehen in mir widersprüchliche Gefühle. Einerseits empfinde ich ein ganzes Bündel an Emotionen für diesen Menschen, wie Ärger, Wut, Groll, Enttäuschung etc., andererseits klebe ich mit meiner Aufmerksamkeit an ihm oder ihr. Statt dass ich mich von jemandem löse, mit dem ich schlechte Erfahrungen gemacht habe, wende ich mich dieser Person mental gesehen auch noch zu. Dadurch entsteht in meiner Seele ein innerer Widerspruch, ein Bruch, ich bin nicht mehr ganz und heil.
Diesen Bruch habe ich früher versucht, zu ignorieren. Dass mich das Bestehenbleiben dieses inneren Widerspruchs eine Menge Energie kostet, die mir für meine Weiterentwicklung dann nicht mehr zur Verfügung steht, habe ich nicht bemerkt. Ich kannte es eben nicht anders.
Vergebung ist für dich, nicht für den anderen – was falsch war, bleibt falsch
Der hawaiianische Psychologe und Schamane Serge K. King schreibt in seinem Buch Healing Relationships*, dass Vergebung keinesfalls für denjenigen geübt wird, der etwas falsch gemacht hat. Der Hauptbegünstigte ist der Mensch, der vergibt. Denn der angestaute Ärger löst sich auf, und man hat seine Energien wieder voll zur Verfügung, um seinen eigenen Weg weitergehen zu können. Vergebung ist also der Zustand, in dem man sich nicht mehr darüber ärgert, was eine andere Person getan hat, und der Vorgang, durch den man diesen Zustand erreicht. Es handelt sich dabei um einen inneren Zustand, der hauptsächlich einen selbst betrifft. (S. 45ff)
Vergebung bedeutet keinesfalls die Erlaubnis, dass der andere dies wieder tun darf, und überträgt diesem auch keinen weiteren Nutzen. Jemand, der Strafe verdient, kann immer noch bestraft werden, auch wenn man ihm verziehen hat. Zu vergeben bedeutet auch nicht, zu vergessen, denn dann würde das Problem nur verdrängt werden und, ohne gelöst zu sein, haften bleiben. Es geht bei der Vergebung ausschließlich darum, die eigene Macht wiederzugewinnen, indem man seine Energien für das eigene Weiterkommen aktiviert und nicht in diesem Zustand zwischen Abneigung und Anhaften einfriert. Was wir heute tun und vorhaben, ist um so vieles wichtiger als das, was in der Vergangenheit geschehen ist. (Serge K. King, Healing Relationships*, S. 45ff)
Übung: In 5 Schritten zur Vergebung
Serge K. King beschreibt in seinem Buch* verschiedene Methoden des Verzeihens und Vergebens. Ich habe daraus eine eigene Variante entwickelt, die für mich gut funktioniert, und die ich Dir heute vorstellen möchte:
1. Ich denke an diesen Menschen und das, was er mir angetan hat, was das für mich bedeutet hat, an den Schmerz, wie mich das zurückgeworfen hat etc., wirklich an alle Aspekte und Konsequenzen dessen, was geschehen ist.
2. Ich gebe mir die volle Empathie für das, was ich durchgemacht habe. Emotional fühlt sich das an, als würde ich mich selbst in den Arm nehmen, trösten und eine volle Runde Mitleid mit mir haben, wie eine gute Mutter es bei ihrem Kind tun würde. Das tue ich solange, bis ich mich ruhig fühle und sich eine Wärme über dem Herzen einstellt.
3. Ich stelle fest, dass das, was diese Person getan hat, falsch ist, falsch war und immer falsch bleiben wird.
4. Ich erlaube dieser Person, genau der Mensch zu sein, der er bzw. sie ist, mit all den Fehlern, die er/sie macht. Mit meiner Erlaubnis darf diese Person genauso existieren, wie sie ist und die Erfahrungen machen, die sie macht.
5. Ich lasse los und genieße die Erleichterung, die sich dadurch einstellt.
Indem man von sich aus diesem Menschen erlaubt, genau so zu sein, wie er ist, begibt man sich wieder in seine eigene Macht. Dies nimmt einem das Gefühl, jemandem oder einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Bei mir führt dies zu einer großen Akzeptanz dessen, was geschehen ist. Im Anschluss fällt es mir leichter, Toleranz zu üben, statt mich über das, was andere tun, aufzuregen.
Probiere es aus und lasse Dich nicht entmutigen, wenn der Groll nach einer Weile wiederkommt. Wiederhole in diesen Fällen die fünf Schritte . Es kommt nicht darauf an, sofort Erfolg zu haben, sondern im Hier und Jetzt immer wieder sein seelisches Gleichgewicht zu finden. Auf diese Weise gehst Du mit Deiner Verletzlichkeit konstruktiv um und verwandelst sie in Stärke. Denn wir Hochsensible können auf starke Weise zart sein.
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