Hochsensibilität – jeder hat seinen eigenen Stil

Ich bekomme immer wieder Anfragen von Menschen, die zahlreiche Merkmale der Hochsensibilität an sich entdeckt haben, aber auch einige Eigenschaften aufweisen, die scheinbar nicht dazu passen. Hochsensible Menschen gelten in der Regel als schüchtern, introvertiert, eher besorgt als mutig und tendenziell zurückgezogen. Doch das ist nur ein Klischee. Die Hochsensibilitätsforscherin Elaine N. Aron hat dazu einen Fragebogen erstellt, den sie an über 1000 Menschen verteilt hat, und dabei festgestellt, dass es bei Hochsensiblen zu ganz unterschiedliche Stilen kommen kann (s. Elaine N. Aron: Sind Sie hochsensibel? Ein praktisches Handbuch für hochsensible Menschen. Das Arbeitsbuch, München 2014, Kindle Edition Pos. 1138ff). Sensibilität hat also viele Nuancen und scheinbar Widersprüchliches kann durchaus in einer Person vereint vorkommen. Ich finde es wichtig, darüber Bescheid zu wissen und möchte deswegen Elaine N. Arons Forschungsergebnisse hier kurz zusammenfassen.

Introvertierte und Extrovertierte Hochsensible

Laut Aron sind ungefähr 70% aller Hochsensiblen introvertiert, d.h. sie mögen und brauchen andere Menschen zwar, ziehen es aber vor, nur einige wenige enge Freunde zu haben und ihre Zeit lieber mit ihnen zu verbringen als in einer großen Gruppe. Viele extrovertierte Hochsensible fragen sich, ob sie überhaupt hochsensibel sind, weil sie sich so sehr von den introvertierten unterscheiden.

Bei extrovertierten Menschen, die in Bezug auf Sensibilität normal veranlagt sind, ist es so, dass sie gern unter Menschen sind, und es ihnen auch leichter fällt, sich in Gemeinschaft zu entspannen. Außerdem treffen sie ihre Entscheidungen impulsiv. Extrovertierte Hochsensible hingegen sind zwar gern unter Menschen, laden ihre Batterien aber lieber allein auf. Außerdem nehmen sie sich gern eine gewisse Zeit für ihre Entscheidungen.

Laut Aron entwickeln Hochsensible besonders dann einen extrovertierten Stil, wenn sie in einer extrovertierten Familie oder Umgebung aufwachsen, wo es ein ständiges Kommen und Gehen gibt, das alle Beteiligten genießen. Dadurch wird diese Lebensweise vertraut und fühlt sich sicher an. Das ist meiner Einschätzung nach eine runde Sache, weil es eine Bereicherung des Verhaltensrepertoires darstellt. Es ist nur wichtig, das gut auszubalancieren und sich dennoch die Ruhe und den Rückzug zu gönnen, den man als hochsensibler Mensch braucht.

Aron meint, dass einige Hochsensible aber vielleicht auch zur Extrovertiertheit gezwungen worden sind, um es ihrer Familie recht zu machen. Womöglich mussten sie ihre Hochsensibilität dadurch auch kompensieren oder verbergen. Meiner Einschätzung nach ist das eine ungünstige Entwicklung, weil man sich auf diese Weise von sich selbst und seinen wahren Bedürfnissen entfernt. In diesem Fall halte ich es für wichtig, sich selber wieder zu entdecken, die eigene Hochsensibilität zu akzeptieren und sie wieder voll zu integrieren.

Hochsensibilität und Abenteuerlust

Forschungen legen nahe, dass unser Impuls zu handeln von zwei Gehirnsystemen gesteuert wird. Das eine hemmt unser Verhalten und veranlasst uns, die Situation genau zu überprüfen, das andere aktiviert es und sorgt dafür, dass wir neugierig, aktiv und schnell gelangweilt sind. Menschen, bei denen letzteres aktiv ist, werden als „Sensation Seekers“ bezeichnet.

Bei Hochsensibilität steht laut Aron grundsätzlich das erste, hemmende System im Vordergrund. Es kann aber durchaus vorkommen, dass das zweite, aktivierende, zusätzlich auch noch sehr aktiv ist. Ist das der Fall, wird es einem einerseits schnell langweilig, man ist aber andererseits auch schnell übererregt. Es ist dann nicht ganz einfach, das ideale Erregungsniveau zu halten.

Viele Hochsensible streben ein ruhiges, zurückgezogenes Leben an und langweilen sich dabei nicht. Bei den Sensation Seekers unter uns ist das anders: Sie suchen das Abenteuer! Und da kann es eben leicht passieren, dass man sich in etwas hineinstürzt, das einen am Ende überreizt. Hochsensible Sensation Seeker müssen also stets dafür sorgen, dass sie sowohl genügend Ruhe und Regenerationsphasen haben, als auch ausreichend Thrill.

Hochsensibilität, Ängste, Depression und Schüchternheit

Elaine N. Aron hat über ihren Fragebogen herausfinden können, dass etwa ein Drittel der von ihr getesteten Hochsensiblen ängstlich und depressiv waren, während dies bei den übrigen zwei Dritteln nicht der Fall war. Sie stellte auch fest, dass das depressive Drittel eine schwierige Kindheit hatte, während die unbekümmerten aus einem unproblematischen Elternhaus kamen. Es handelt sich hier also eindeutig nicht um genetische Varianten, sondern um biographische. Hochsensible Menschen, die eine schwere Kindheit hatten, haben im Vergleich zu normal Veranlagten ein erhöhtes Risiko, Ängste und Depressionen zu entwickeln.

Das gleiche ergab sich beim Thema Schüchternheit – Hochsensible werden nicht schüchtern geboren, sondern entwickeln diese Eigenschaft nur in einem Umfeld, das ablehnend oder unsensibel ist.

Hochsensibilität und Ehrgeiz

Laut Arons Forschung hat Ehrgeiz nichts damit zu tun, ob jemand hochsensibel ist oder nicht. Sie hat aber festgestellt, dass introvertierte Hochsensible eindeutig weniger Ehrgeiz aufweisen. Das ist ja auch nicht weiter verwunderlich, da diese mit einem ruhigen Leben zufrieden sind und sich dabei nicht langweilen. Warum sollten sie also mehr als das erreichen wollen, wenn sie dabei in sich ruhen und glücklich sind.

Ehrgeizige Hochsensible sahen ihren Wesenszug als Vorteil an, besonders für diejenigen, die es beruflich zu etwas bringen wollen. Meiner Meinung nach muss man aber auch hier wieder darauf achten, das gut auszubalancieren. Zwölf-Stunden-Arbeitstage sind nichts für Hochsensible, sie benötigen nach Feierabend Zeit für Entspannungstechniken und zur Regeneration. Wie gut es um Deine Regenerationsfähigkeit bestellt ist, erfährst Du in meinem Artikel Kannst Du abschalten? Teste Dein Regenerationsvermögen!

Hochsensibilität und Ärger vermeiden

Interessanterweise hat Aron herausgefunden, dass Hochsensible nur in geringem Maß mehr dazu neigen, Ärger vermeiden zu wollen, als das bei in Bezug auf Sensibilität normalveranlagten der Fall ist, und das auch nur bei den Hochsensiblen, die stark introvertiert sind. Wahrscheinlich haben es Hochsensible, die auch einmal zornig werden können, etwas leichter im Leben. Sie können sich einfach besser abgrenzen, ein „Genug!“ geht ihnen leichter über die Lippen. Meine Gedanken zu diesem Thema kann man in meinem Artikel Zu lieb sein macht böse nachlesen.

(Quelle: Elaine N. Aron, Sind Sie hochsensibel? Ein praktisches Handbuch für hochsensible Menschen. Das Arbeitsbuch, München 2014, Kapitel „Den eigenen HSP-Stil erkennen: ein Bewertungsbogen“, Kindle Edition Pos. 1138-1265)

Meine Erfahrungen mit den verschiedenen Stilen der Hochsensibilität

Es dürfte also inzwischen klar geworden sein, dass eine introvertierte hochsensible Persönlichkeit, die ein Sensation Seeker ist und eine schwierige Kindheit hatte, etwas ganz anderes ist als eine extrovertierte, diskussionsfreudige mit einer schönen Kindheit. Mit dem Klischee von der introvertierten, ruhigen, zurückgezogenen und etwas schüchternen Person hat schon Elaine N. Aron gründlich aufgeräumt.

Ich persönlich habe Arons Test gemacht und dabei festgestellt, dass ich eine Sensation Seekerin bin. Es trifft zu, dass ich schon immer recht abenteuerlustig war. In Phasen, wo ich eher ein ruhigeres Leben hatte, ging es mir zwar prächtig, aber ich habe mich tatsächlich schnell gelangweilt und mir deswegen immer wieder neue Abenteuer und Herausforderungen gesucht. Die wurden mir dann aber auch schnell wieder zu viel, so dass ich dann den Rückzug aus der Welt angetreten habe, woraufhin der ganze Zyklus von vorne begonnen hat.

Mir hat es sehr geholfen, mehr über meinen Hochsensibilitäts-Stil zu erfahren. Erstens habe ich jetzt eine Erklärung, inwiefern ich mich von anderen Hochsensiblen unterscheide, und lasse mich davon nicht mehr verunsichern. Zweitens achte ich seitdem darauf, mich diesbezüglich besser auszubalancieren, d.h. mir meine Abenteuer so zu wählen, dass sie mir Zwischenstopps lassen, in denen ich mich um meine andere Seite kümmern kann.

Dadurch habe ich meinen Platz in der Welt gefunden und schwanke nicht mehr zwischen „Mich mitten ins Leben Stürzen“ und „Einsiedlertum“ hin und her. Ich weiß einfach, dass ich einerseits Abenteuer brauche, aber auch ausreichend Sicherheit und Ruhe, um meiner hochsensiblen Veranlagung gerecht zu werden.

Leonardo da Vinci, Mona Lisa, 1506, Foto von „au plus près des Oeuvres“ auf Wikimedia Commons
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6 Gedanken zu „Hochsensibilität – jeder hat seinen eigenen Stil“

  1. sehr interessant. diese unterschiedlichen aspekte und zusammenhänge waren mir so gar nicht klar. das erklärt einiges ;-) danke dafür! gibt es einen speziellen test bezüglich der Sensation Seeker, vielleicht sogar in deutsch?

    Antworten
    • Hallo Andrea,

      vielen Dank für Dein Interesse, das mich sehr freut! :-)

      Ich kenne keinen Test außer dem von Elaine N. Aron (Elaine N. Aron: Sind Sie hochsensibel? Ein praktisches Handbuch für hochsensible Menschen. Das Arbeitsbuch, München 2014, Kindle Edition Pos. 1138ff). Aber ich tippe Dir geschwind die Fragen aus dem Test ab, die dafür relevant sind:

      1. Probieren Sie gern neue Dinge aus (wenn sie nicht zu erdrückend sind)?
      2. Langweilen Sie sich schnell?
      3. Würde ein ruhiges, geregeltes Leben in der Abgeschiedenheit eines Klosters oder Leuchtturms Sie irgendwann ruhelos machen?
      4. Wollen Sie sich einen Film normalerweise nicht zweimal anschauen, auch wenn er Ihnen gefallen hat?
      5. Macht es Ihnen Spaß, neue Dinge auszuprobieren?

      Ein „Ja“ auf vier oder fünf dieser Fragen zeigt, dass Sie zu den „Sensation Seekers“ unter den HSP gehören. Haben Sie drei dieser Fragen bejaht, gehören Sie der mittleren Kategorie an. Bei keiner, einer oder zwei Ja-Antworten ist Ihr Stil der einer nachdenklichen, die Ruhe liebenden HSP.

      Ich hoffe, das hilft Dir vorerst weiter!

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  2. Hallo Anna-Barbara,
    nach der Lektüre deines Beitrages oben, habe ich gegoogelt und einen Kurz-Typentest gefunden. //www.typentest.de/test_-_start/test_-_start.htm
    Danach habe ich eine Auswertung bekommen, die mich umgehauen hat. (Natürlich weiß ich, dass solche Sachen nicht überbewertet werden dürfen!)
    Jedenfalls beschreibt da jemand, wie ich mich seit nunmehr 50 Jahren fühle….
    Das erleichtert mich sehr, hatte ich doch immer das Gefühl „komisch“ oder „nicht richtig“ zu sein.

    Danke und liebe Grüße
    Hildegard

    Antworten
    • Hallo Hildegard,

      vielen Dank für diesen Link! Das ist der sogenannte „Big Five“-Test, ein anerkannter Persönlichkeitstest, den ich auch kenne. Es lohnt sich auf alle Fälle, ihn zu machen, von daher finde ich das wirklich eine gute Anregung von Dir!

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  3. Liebe Anne-Barbara,
    mein Kind wird bald vier und ist extrovertiert HS; ich vermute auch Sensation Seeker. Sind dir in der Literatur Quellen untergekommen, die uns als Eltern unterstützen können, unserem Kind das Leben etwas leichter zu machen?
    Ich würde mich freuen!
    Herzlichen Gruß, Franziska

    Antworten
    • Liebe Franziska,

      ich weiß nicht, ob Du diese Seite schon kennst, aber hier gibt es sehr viele Tipps für den Umgang mit hochsensiblen Kindern:

      hochsensibel.org – Kinder und Jugendliche

      Hochsensibilität ist ja erblich. Von wem hat er seine Hochsensibilität? Von Dir, von Deinem Mann oder von beiden? Jedenfalls ist es als hochsensible Eltern immer ratsam, sich auch um sich selbst zu kümmern. Denn wenn die Eltern wissen, was Hochsensibilität bedeutet und wie man damit umgeht, können sie dies auch an ihre Kinder weitergeben.

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

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