Meine Eltern haben fest an Darwin geglaubt. Nur der Stärkere kann überleben, und so meinten sie auch, mich erziehen zu müssen. Sie dachten, dass sie mir einen Gefallen damit tun würden, mir meine Hochsensibilität „austreiben“ zu wollen. Gestützt wurde diese These durch die spezielle Art von Tierfilmen, wie sie in meiner Kindheit üblich waren. In Prof. Grzimeks Filmen über die Serengeti oder in Walt Disney’s „Die Wüste lebt“ wimmelt es von Szenen, in denen die „schwächsten“ aus einer Herde von Huftieren von wilden Raubkatzen, Hyänen und weiteren Bestien aller Art gejagt, erlegt und grausam in Stücke gerissen werden. Und so sollte ich ja nicht enden, meinten meine Eltern. Eine solche Sichtweise führt im Endeffekt dazu, dass Hochsensibilität als etwas nicht Überlebensfähiges eingestuft wird. Doch ist das Leben wirklich nur eine endlose Abfolge grausamer Schlachten ums Überleben?
Wie Zusammenarbeit beim Überleben
hilft
Dass dies nicht die blutige „Realität“ ist, der man sich eben stellen und gegen die man sich abhärten muss, wurde mir klar, als ich mich mit Zellbiologie beschäftigte. Dabei stieß ich auf ein Buch des Zellbiologen Bruce Lipton namens Intelligente Zellen. Wie Erfahrungen unsere Gene steuern*. Er spricht davon, dass wir die für die Evolution notwendige Kooperation vergessen haben, als Darwin vor 150 Jahren den Kampf ums Überleben und den Kampf der Natur gegen Hunger und Tod zum Motor der Evolution erklärt hat. Dabei gebührt eigentlich dem französischen Biologen Jean-Baptiste de Lamarck die Ehre, die Evolution als wissenschaftliche Tatsache eingeführt zu haben, und das bereits 50 Jahre vor Darwin. Lamarck ist der erste gewesen, der das gesamte Tierreich als ein Ergebnis der Evolution dargestellt hat. Dabei hat er Mechanismen aufgezeigt, die keineswegs hart und unerbittlich sind. Er ging davon aus, dass die Evolution auf einer instruktiven, kooperativen Interaktion zwischen Organismen und ihrer Umgebung beruht, die es den Lebewesen ermöglicht, zu überleben und sich in einer dynamischen Umgebung weiter zu entwickeln, was wiederum ihr Überleben sichert. (a.a.O., Pos. 524ff)
Lamarcks Hypothesen passen zu den neuen Erkenntnissen der modernen Zellbiologie. Dabei geht das heutige Kooperationsverständnis weit über offensichtliche Beispiele hinaus, wie z.B. die Seeanemone, die ihren Einsiedlerkrebs vor Tintenfischen beschützt. Tiere haben sich gemeinsam entwickelt und können nur im Verbund mit weiteren Mikroorganismen existieren, die uns z.B. helfen, Nahrung zu verdauen und lebenswichtige Vitamine aufzunehmen. Die neuesten Erkenntnisse der Genforschung zeigen, dass lebende Organismen Gene untereinander austauschen und dadurch die Evolution beschleunigen. Dies geschieht nicht nur bei Mitgliedern einer Art, sondern auch bei verschiedenen Arten untereinander. Die Gefahren der Gen-Technik werden hier noch offensichtlicher. Wir müssen also über Darwins Theorien hinausdenken und die Bedeutung der Gemeinschaft stärker berücksichtigen. (ebd., Pos. 571ff)
Diese Kooperationsformen gehen bis tief in die zelluläre Ebene. Zellfunktionen werden hauptsächlich durch ihre Interaktion mit der Umgebung gesteuert, wobei man die Zellmembran als das Gehirn der Zelle ansehen kann. Ihre Funktion ist es, intelligent auf Umwelteinflüsse zu reagieren und daraus ein sinnvolles Verhalten abzuleiten. Doch die Oberfläche einer einzelnen Zelle ist endlich, damit auch ihre Intelligenz und ihre Fähigkeit, mit der Umgebung zu interagieren. Sie kann auch nicht unendlich groß werden, da die Zellmembran nur aus einer hauchdünnen Schicht besteht. Ab einer gewissen Größe würde diese platzen wie ein zu stark aufgeblasener Luftballon. Als die Zellmembran diese kritische Ausdehnung erreicht hatte, war die Evolution der Einzeller an ihre Grenze gestoßen. Um klüger zu werden, fingen die Zellen an, Gemeinschaften zu bilden. Dort fingen die Zellen an, sich zu spezialisieren, was in unseren verschiedenen Geweben und Organen seinen Ausdruck findet. (ebd., Pos. 1123ff)
Diese Erkenntnisse werfen doch ein ganz neues Bild auf die Kraft der Kooperation. Es überlebt also nicht der Stärkste, sondern derjenige, der am besten kooperiert. Denn Stärke entsteht nur aus der Kooperation heraus, und nicht aus der Konfrontation, die letztlich nur schwächt. Eine solche Interpretation der Evolution wirft auch ein ganz anderes Licht auf das Phänomen Hochsensibilität. Denn hochsensible Menschen werden eher kooperieren als kämpfen und damit ihren Platz in der Welt finden, wie man in meinem Artikel Das Leben ist eine Weltreise – Hochsensibilität und Berufung nachlesen kann.
Wie das NS-Regime den Darwinismus prägte
Die darwinistische Sicht auf die Welt hat sicherlich auch durch das NS-Regime der 1930er und 40er Jahre noch einmal gewaltigen Auftrieb bekommen. Warum meine Eltern so dachten, wie sie eben dachten, liegt wohl daran, dass sie als Kinder in dieser Zeit aufgewachsen sind. Da gab es nur Kämpfen, stark Sein, Siegen, und alles, was da nicht mithalten konnte, war mehr oder weniger „lebensunwertes Leben“ und gehörte auf die Müllhalde der Evolution. Selbst wenn diese Kriegskinder sich bewusst vom NS-Regime distanziert hatten, wirkten solche Introjekte doch unbewusst in ihnen nach, mit enormen Auswirkungen auf meine Generation, wie man im Artikel Hochsensible Kriegsenkel nachlesen kann.
Das Motto des Lebens könnte also „Kooperation statt Konfrontation“ lauten, und so lautet auch der Leitspruch der Mediation. Mediation ist ein außergerichtliches Verfahren der Streitbeilegung, in dem die Konfliktpartner lernen, aus der Konfrontation auszusteigen und einvernehmliche, aufeinander bezogene Win-Win-Lösungen zu finden. Diese kooperativ gewonnenen Lösungen haben sich als um einiges nachhaltiger erwiesen als z.B. Kompromisse, bei denen mehr oder weniger alle unglücklich sind, oder auch als Richtersprüche, durch die Gewinner und Verlierer entstehen. Auch hier scheint das Prinzip der Kooperation tragfähiger als alles andere zu sein.
Quelle: Bruce Lipton: Intelligente Zellen. Wie Erfahrungen unsere Gene steuern*
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