Hochsensibilität und Selbstwertgefühl

Gestern hatte ich wieder Migräne, was gar nicht schön war. Mit meiner Migräne gehen stets Anfälle von Einbrüchen meines Selbstwertgefühls einher. Dieses recht jämmerliche Gefühl schreibt Hartmut Göbel, Leiter der Schmerzklinik Kiel und Autor des Buches „Erfolgreich gegen Migräne“, dieser Erkrankung als typisches Begleitsymptom zu. Obwohl das natürlich einen gewissen Trost darstellt, frage ich mich trotzdem, was zuerst da ist, das Huhn oder das Ei. Sprich: Ist die Migräne die Ursache für Einbrüche im Selbstwertgefühl oder können diese über negative Gedanken und den damit entstehenden Stress nicht auch Kopfschmerzen auslösen? Heute habe ich mich für die letztere Variante entschieden, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich es dann in der Hand habe, etwas für mich zu tun. Dies habe ich zum Anlass genommen, mich einmal grundsätzlich mit dem Thema Hochsensibilität und Selbstwertgefühl zu beschäftigen, was ich ohnehin schon seit einer Weile tun wollte.

Nachtrag vom 27.11. 2023: Seit 2014, als ich diesen Blog-Artikel geschrieben habe, hat sich bei mir viel getan. Ich habe einige Ursachen für meine Migräne gefunden und nach und nach ausgeräumt. Inzwischen kann ich mich als fast migränefrei bezeichnen. Es geht mir gut! :-D

Drei Ursachen für ein schlechtes Selbstwertgefühl

1. Selbstunterschätzung durch schiefe Vergleiche

Viele hochsensible Menschen neigen zu einem schlechten Selbstwertgefühl. Elaine N. Aron spricht in ihrem Buch Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen* (München 2011) von der (falschen) Annahme, mit einem Makel behaftet zu sein.

Aufgrund unserer erniedrigten Reizschwelle können Dinge, die anderen völlig normal vorkommen, auf Hochsensible schon so starke Reize ausüben, dass wir sie als Stress empfinden. Während die meisten Menschen Sirenen, grelles Licht und unangenehme Gerüche ignorieren, fühlen wir uns dadurch sichtlich beeinträchtigt. Wenn sie einen Raum betreten, bemerken normal veranlagte Menschen vielleicht die Möbel und die anderen Leute, während ein hochsensibler Mensch, ob er will oder nicht, auch noch die vorherrschende Stimmung, Freundschaften und Feindschaften wahrnimmt sowie die Persönlichkeit desjenigen erahnt, der die Blumen arrangiert hat.

Doch wir wissen nicht viel über unsere Fähigkeiten, können sie nicht gut einordnen und denken dann nur, dass wir eben weniger ertragen als andere. Dabei vergessen wir, dass wir oftmals große Kreativität, Leidenschaft, Erkenntnis und Anteilnahme an den Tag legen, alles Qualitäten, die gesellschaftlich durchaus geschätzt werden. (ebd., S. 25ff)

Aron geht also davon aus, dass der Vergleich mit anderen Menschen zu einem schlechten Selbstwertgefühl führt, besonders ein so schiefer Vergleich, der nur die Nachteile unserer Veranlagung berücksichtigt und unsere Stärken nicht mit einbezieht. Es gibt aber noch weitere Ursachen für dieses Problem.

2. Das Gefühl, dass etwas mit uns nicht stimmt

In der Regel fallen wir mit unseren besonderen Bedürfnissen schon früh auf. Wenn ein Kind z.B. die vielen Reize im Kindergarten nicht erträgt, kommt man schnell zu der Annahme, dass mit diesem Kind etwas nicht in Ordnung ist. Elaine N. Aron bringt das Beispiel einer jungen Frau, der derartiges widerfahren ist. Ein Diagnosemarathon war die Folge, an dessen Ende festgestellt wurde, dass das Mädchen lediglich Schwierigkeiten hat, Reize zu verarbeiten.

Auch wenn diese Diagnose prinzipiell richtig war, blieb bei diesem Kind dennoch hängen, dass etwas mit ihr nicht stimmt. (a.a.O., S. 26) Dazu kommt, dass viele hochsensible Menschen von Klein auf mit Unverständnis behandelt, für ihre Empfindlichkeit gehänselt und als Weichei, Mimose oder Prinzessin auf der Erbse bezeichnet werden. Das bleibt nicht ohne Folgen für das Selbstbewusstsein.

3. Unser Hang zum Perfektionismus

Eine weitere Ursache für ein schlechtes Selbstwertgefühl ist, dass hochsensible Menschen einen gewissen Hang zum Perfektionismus haben. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Perfektionismus in dem Sinn, dass man einen Vollkommenheitsanspruch an sich selbst hätte. Der Perfektionismus hochsensibler Menschen hängt damit zusammen, dass uns Fehler aufgrund unserer Empfindsamkeit mehr auffallen und dadurch auch mehr stören. Also stören uns auch die eigenen Schwächen mehr, als es eigentlich sein müsste.

Zu diesem Thema habe ich übrigens einen ausführlichen Blog-Artikel geschrieben: Hochsensibilität und Perfektionismus Dort erfährst du mehr über diese Zusammenhänge.

Wie alle drei Ursachen zusammenwirken

Für Störungen des Selbstwertgefühls bei hochsensiblen Menschen gibt es also innere und äußere Ursachen:

  • Innere Ursachen kommen von schiefen Vergleichen, nämlich, dass wir nur denken, wir könnten weniger ertragen als andere, ohne unsere Qualitäten zu sehen, und ohne zu berücksichtigen, dass andere eine solche Menge an Daten auch nicht bewältigen könnten, sondern sie schlichtweg stärker filtern.
  • Eine weitere innere Ursache ist unsere Fehlerempfindlichkeit, die macht, dass wir unsere eigenen Schwächen überschätzen.
  • Von außen kommt, dass wir oft schon früh durch unsere besonderen Bedürfnisse und Reaktionen auffallen. Dann entsteht vielleicht eine Sorge bei den Menschen, die für unsere Erziehung zuständig sind, die sich am Ende auf uns überträgt, und/oder wir werden gehänselt.

Wenn diese drei Faktoren, nämlich schiefe Selbstvergleiche, Fehlerempfindlichkeit und negative Reaktionen unserer Umwelt zusammenwirken, kann dies eine Abwärtsspirale in uns auslösen, die uns direkt vom Selbstwert in den Selbstunwert treibt. Und aufgrund unserer Hochsensibilität geht es dann mit uns stimmungsmäßig recht schnell in den Keller.

Die gute Nachricht: Aus dem gleichen Grund können wir uns in einer Aufwärtsspirale auch genauso fix wieder berappeln.

Drei Sofort-Maßnahmen für ein besseres Selbstwertgefühl

Dafür ist es erst einmal wichtig, sich diese Vorgänge bewusst zu machen, damit man sie für sich selbst relativieren kann. Im zweiten Schritt sollte man seine Achtsamkeit darauf richten, was in einem und um einen vor sich geht, um dann sofort gegenzusteuern. Dies lässt sich besonders mit dem Augenmerk auf die von innen kommenden Ursachen bewerkstelligen:

  1. Als erstes solltest du damit aufhören, schiefe Vergleiche mit anderen Menschen aufzustellen. Wir leisten genauso viel wie sie, nur in anderen Bereichen.
  2. Mache dir bewusst, dass es uns leicht passieren kann, unsere eigenen „Fehler“ und „Schwächen“ wie durch eine Lupe zu sehen. Werde gnädiger mit dir selbst! Das lohnt sich immer, wie du in meinem Artikel Mehr Leichtigkeit durch weniger Urteilen nachlesen kannst.
  3. Was die äußeren Ursachen betrifft, kann es tatsächlich helfen, dich als hochsensibel zu outen. Dies führt zu mehr Authentizität und Souveränität. Hänseleien und Foppereien verlieren den Widerstand, aus dem sie ihre Energie ziehen, und es wird möglich, selbst mit mehr Humor auf Unterschiede zu normalveranlagten Menschen zu reagieren.

Was man bei einem Outing beachten sollte, kann man in meinem Artikel Hochsensibel? Outen leicht gemacht! nachlesen.

Elaine N. Arons Buch Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen auf Amazon ansehen*

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9 Gedanken zu „Hochsensibilität und Selbstwertgefühl“

  1. Jahrelang dachte ich, dass jeder so ist wie ich . Mein halbes Leben dachte ich ,ich sei als chinesisch sprechendes Kind in Deutschland geboren worden.
    Ich hatte sehr übergriffige Eltern, die kaum Grenzen respektieren (Nachkriegskinder.)Zuwendung war eher selten. Ewig dachte ich, ich sei adoptiert und irgendwann würden meine richtigen Eltern vor der Tür stehen und mich abholen.
    Erst vor ein paar Jahren habe ich gelernt, was mit mir los ist.
    Dadurch, dass ich mit „Da mußt du durch“ groß geworden bin, fällt es mir schwer, auf Überforderungen rechtzeitig zu reagieren. Abgrenzung funktioniert oft nur schlecht. Dein EFT funktioniert super.
    Ich mußte erst mal lernen, dass meine Bedürfnisse berechtigt + wichtig sind. Mein selbswert schwankt andauernd. Habe einen fiesen inneren Richter, dem ich mich oft nicht Widersetzen kann. Aber ich bin dran.
    Mich machen übrigens Farben glücklich + Formen. Manchmal erfrischen sie mich regelrecht.

    Antworten
    • Liebe Martina,

      vielen Dank für Deinen bewegenden Bericht, in dem sich so viele typische Elemente finden, die uns hochsensible Menschen beschäftigen. Ich finde es toll, dass Du diese Themen jetzt angehst und in EFT ein wirksames Werkzeug gefunden hast! Was den inneren Richter betrifft, hätte ich noch einen Tipp für Dich, falls Du den Artikel noch nicht kennen solltest:

      Mehr Leichtigkeit durch weniger Urteilen

      Dort verlinke ich auf ein Buch, mit dessen Hilfe man systematisch am inneren Richter arbeiten kann, und das mir sehr geholfen hat.

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  2. Ich habe mich gerade sehr in Martinas Zeilen wiedergefunden. Auch wenn meine ELtern einen anderen Hintergrund haben und ich mir die Frage, adoptiert zu sein, selbst nicht gestellt habe. Andere Eltern hahe ich mir sehr oft gewünscht und tue es teilweise bis heute – ich sehne mich nach respektvolleren, weniger übergriffigen, verständnisvolleren Menschen.
    Meinen inneren Richter konnte ich durch einen spontanen Nebenjob ein Stück weit in die Schranken weisen: Ich springe gerade in einer Abteilung ein, wo das Personal kurzfristig vertreten werden muss, ohne dass es ein System gibt, das für andere erkennbar und nutzbar ist. Leitmotto war sowas wie: Gut, dass Du da bist, mach einfach mal, falsch machen kannst Du nichts.
    Um mein Abgrenzungs-Thema anzugehen, hilft mir die Körperarbeit nach der Grinberg-Methode enorm viel weiter. Während ich in Gedanken zu schwierigen SItuationen gehe, kann ich im Kontakt zur PRaktikerin und deren Positionsveränderungen körperlich meine Grenzen genau wahrnehmen und anders darauf reagieren lernen.

    Antworten
  3. Eine wahre Fundgrube an Informationen ist das hier die dir. Ich lese mich mal ein.
    Gerade gestern erst wieder im Restaurant störte mich eine blau flackernde Lichterkette, die die anderen Menschen um mich herum nicht im geringsten zu stören schien.
    Die Verknüpfung von mangelndem Selbstwert > Migräne kann ich gut nachvollziehen. Ähnliches beobachte ich auch bei mir selbst.

    Antworten
    • Hallo Muschelfinderin,

      danke Dir, das freut mich! Was Du über die Lichterkette schreibst, ist sooo typisch… ;-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  4. Liebe Anne-Barbara,

    Deine Seite ist ein große Bereicherung für mich. Meine Eltern sind auch eher von der „kernigen Fraktion“ und jede Gefühlsregung meinerseits wurde in meiner Kindheit abgewürgt und als nicht wichtig eingestuft, weinen war quasi ein Zeichen von Schwäche, man hielt mich an „mich nicht so anzustellen“ usw. usw. usw…..so dass ich mich in mich zurückzog und mich immer fühlte als sei ich ein Alien. Ich weiß seit einigen Jahren dass ich hochsensibel bin und habe das Gefühl auf einem guten Weg zu sein. Vor allem weiß ich jetzt warum Gerüche, Geräuche und grelle optische Eindrücke mich so belasten und andererseits die Kunst, die Natur und die Musik mich so sehr berühren! Deine Informationen haben mich wieder ein Stückchen weiter gebracht, vielen Dank dafür. Herzliche Grüße, Petra

    Antworten
    • Liebe Petra,

      vielen Dank für Deinen Erfahrungsbericht und Dein nettes Feedback! Ich finde es toll, dass Du Deine eigenen Wege gehst und dem, was Deine Eltern Dir vermittelt haben, keinen Glauben mehr schenkst. Du bist überhaupt kein Alien, ganz viele ticken so wie wir. Hochsensibilität ist eine Weise des Seins, die genauso ihre Berechtigung, genauso ihre Vor- und Nachteile hat, wie alle anderen Weisen des Seins auch. Ich wünsche Dir, dass Du die Vorteile mehr und mehr genießen kannst, und um die Nachteile auszugleichen, findest Du hier ja eine Menge Anregungen! :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  5. Liebe Anne-Barbara,

    auch dieser Artikel offenbart so viele wunderbare Schätze. Ein Muß für jeden Menschen mit Selbstwerthema (also praktisch für jeden:-)

    Erich

    Antworten
    • Lieber Erich,

      danke Dir für Dein liebes Feedback, das mich sehr freut! :-D

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

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