Zwei Arten zu streiten

Viele hochsensible Menschen fragen sich, warum sie mit bestimmten Menschen Konflikte klären können, während es in anderen Fällen wiederum zu erschreckenden Eskalationen kommt. Das kann einem ganz schöne Selbstzweifel einjagen, zu denen wir ohnehin neigen. Doch da sind ja auch die Beispiele, in denen wir wunderbare Konfliktklärungen erleben. Was machen wir in diesen Fällen richtig, in jenen falsch? Auch ich habe viele Jahre gerätselt, warum das bei mir so ist. Erst in meiner Ausbildung zur Mediatorin bekam ich die Antwort: Es gibt nämlich zwei Arten zu streiten. Und wenn jemand die eine Art pflegt, kann er sich schlecht mit Leuten verständigen, die ihre Konflikte auf die andere Art austragen. Man bewegt sich in zu unterschiedlichen Regelsystemen; es ist, als würde einer Tennis, der andere Fußball spielen. Das zu wissen hat mir das Leben ganz schön erleichtert, da ich inzwischen weiß, mit wem ich wie umgehen kann.

Um die Zusammenhänge zu verdeutlichen, möchte ich einen kleinen Ausflug in die Spieltheorie machen. Das mag zunächst überraschend erscheinen, doch wer in einen Konflikt gerät, verfolgt eine bestimmte Strategie, um diesen zu lösen. Und unter Strategie versteht die Spieltheorie einen vollständigen Plan darüber, wie sich ein Spieler in jeder denkbaren Spielsituation verhalten wird. Dies ist abhängig vom Spiel und seinen Regeln:

Streit als Nullsummenspiel

Beim Nullsummenspiel ist die Summe der Gewinne und Verluste gleich Null. Das heißt, dass sich die Spieler in einer Konkurrenzsituation um begrenzte Ressourcen sehen. Im Ergebnis kommt es nur auf Gewinnen, Verlieren oder Unentschieden an.

Wenn jemand einen Streit als Nullsummenspiel versteht, wird er danach trachten, ihn zu gewinnen. Seine Strategien wird er dementsprechend ausrichten: Es geht um Macht und wer der Stärkere ist, frei nach dem Motto „The winner takes it all, the looser’s standing small…“.

Der Konflikt ist in dieser Sichtweise ein Unglück für alle Beteiligten, da er am Ende verbrannte Erde zurücklässt. Viele Menschen scheuen deshalb vor Konflikten zurück. Sie werden unter den Teppich gekehrt, oder man beißt die Zähne zusammen und kooperiert aus Angst vor destruktiven Auseinandersetzungen. Solche Leute halten sich oft für besonders friedliebend und reagieren absolut allergisch auf Menschen, die ihre Konflikte offen austragen möchten. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass das auch gut ausgehen kann.

Streit als Win-win-Spiel

Die Win-win-Strategie oder auch Doppelsieg-Strategie ist darauf ausgerichtet, dass alle Beteiligten und Betroffenen einen Nutzen erzielen. Dabei respektiert jeder Verhandlungspartner sein Gegenüber und versucht, auch dessen Interessen ausreichend zu berücksichtigen. Gleichwertige Partner ringen um einen für beide Seiten positiven Interessenausgleich. Verfolgt jemand diese Strategie, geht es ihm um nachhaltigen Erfolg und um langfristige Zusammenarbeit, nicht um kurzfristigen Gewinn.

Wenn jemand einen Streit als Win-win-Spiel versteht, wird er den Konflikt als Bereicherung empfinden, da man durch die Auseinandersetzung ein neues Gleichgewicht der Beteiligten finden kann, das langfristiger tragen wird als das bisherige. Die Win-win-Spieler werden dabei ihre Positionen und Interessen beherzt kommunizieren, aber auch eine Offenheit für die Interessen des Gegenübers an den Tag legen. Hier sind konstruktive Auseinandersetzungen möglich, deren Lösungen umso besser gelingen, je tiefer man in den Konflikt und seine Hintergründe einsteigt.

Diese Art der Konfliktlösung ist bei hochsensiblen Menschen sehr geschätzt, da sie es aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung lieben, gründlich in Konflikthintergründe einzusteigen. Außerdem mögen sie es nicht, zu gewinnen, da sie zu viel Empathie mit den Verlierern haben. Für sie tritt nur bei Win-win-Lösungen die Ruhe und der Frieden ein, den sie zum Leben brauchen.

Wenn beide Konfliktpartner verschieden streiten

Beide Spielarten des Streits funktionieren für sich genommen ganz gut. Beim Nullsummenspiel wird der Konflikt über Konfrontation, Macht und Unterwerfung gelöst. Das klingt zwar etwas derb, ist aber für jemanden, der mit dieser Prämisse in einen Konflikt gegangen ist, normal. Allerdings ist die Konfliktlösung nicht so nachhaltig, da Verlierer sich langfristig gesehen meist unwohl fühlen und deshalb bei der nächsten Gelegenheit wieder aufbegehren werden.

Wenn beide als Win-win-Spieler ins Rennen gehen, werden sie eine gründliche Konfliktarbeit leisten, ihren Streit kooperativ lösen und nachhaltige Möglichkeiten finden, die zu einer langfristigen Verbesserung für alle Beteiligten führen.

Problematisch wird es, wenn einer der Konfliktpartner als Nullsummenspieler auftritt, während der andere ein Win-win-Spiel erwartet. Denn jetzt spielt der eine Tennis, der andere Fußball. Das sieht dann in etwa so aus:

Der Nullsummenspieler wird auf keinen Fall tiefer in das Konfliktgeschehen einsteigen wollen, da das für ihn einen strategischen Fehler bedeuten würde. Denn er würde so Dinge von sich preisgeben, die seine Position in einem Nullsummenspiel schwächen würden. Wenn jetzt der Win-win-Spieler darauf drängt, dass der Nullsummenspieler endlich sagt, was ihn wirklich bedrückt, wird sich der Nullsummenspieler bedroht fühlen und mauern bzw. aggressiv reagieren.

Spricht der Win-win-Spieler über seine wahren Interessen, wird ihn der Nullsummenspieler für selten dämlich halten und dies für die eigene Machtposition ausnutzen. Das wiederum wird den Win-win-Spieler dermaßen kränken, dass er sich massiv darüber beschweren wird. Dafür wird der Nullsummenspieler nun gar kein Verständnis zeigen, da er aufgrund der Regeln innerhalb seines Spiels ein tieferes Einsteigen in die Hintergründe des Konflikts verweigert. Das Ganze beginnt von vorn und führt unweigerlich in eine Eskalation.

Fazit: Achte darauf, welches Spiel gespielt wird!

Wenn du als hochsensibler Mensch nun festgestellt hast, mit welcher Spielart du in Konflikte gehst, achte in Zukunft auch darauf, welche Spielart derjenige bevorzugt, mit dem du in eine Auseinandersetzung gehst. Wenn du nämlich ein Win-win-Spieler bist, kann es relativ böse enden, wenn du an einen Nullsummenspieler gerätst. Du wirst viel von dir preisgeben, was dieser gegen dich verwenden wird, und er wird dir nicht die Informationen geben, die du benötigst, um kreative Win-win-Lösungen zu entwickeln.

Er wird dich als mittelprächtig bescheuert und auch bösartig wahrnehmen, weil du Dinge von ihm forderst, die aus seiner Sicht seine Position schwächen würden. Und du wirst ihn als bösartig erleben, weil er aus deiner Sicht Dinge, die du vertrauensvoll preisgegeben hast, gegen dich verwendet.

Niemand ist jedoch grundsätzlich „böse“, nur weil er sich für eine bestimmte Spielart entschieden hat. Wenn Menschen z.B. in eine Mediation gehen, ist immer mindestens einer von beiden im Nullsummenspiel gefangen. Mediation ist eine Methode der außergerichtlichen Konfliktklärung, in der ein Nullsummenspiel gezielt in ein Win-win-Spiel überführt wird. Dies geschieht, indem die Beteiligten durch die Interventionen des Mediators bzw. der Mediatorin lernen, dass genau das in ihrem beiderseitigen Interesse liegt. Sobald sie das neue Spiel gelernt haben, sind sie in der Lage, sich konstruktiv zu einigen.

Wenn Streit eskaliert, heißt das also nicht, dass die Beteiligten an sich „böse“ sind, sondern nur das Spiel, das sie spielen.

Wikipedia-Artikel Spieltheorie ansehen
Wikipedia-Artikel Win-win ansehen
Wikipedia-Artikel Nullsummenspiel ansehen

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5 Gedanken zu „Zwei Arten zu streiten“

  1. Hallo Frau Kern,

    herzlichen Dank für diesen sehr interessanten Artikel – er erklärt vieles, woran ich schon fast verzweifelt wäre…

    Haben Sie schon von dem Konzept Elain Aron’s gehört – Ranking & Linking?
    Also die Gegenüberstellung des Prinzips der Rangordnung vs. Verbindung/Vernetzung?

    Sehen Sie auch den folgenden Artikel in Psycholog Today, abgerufen am 23.07.2015:
    https://www.psychologytoday.com/blog/attending-the-undervalued-self/201001/ranking-and-linking-better-and-worse

    Dort geht es ganz allgemein um diese 2 Prinzipien, die Sie auch genau auf das Thema Streit bezogen haben. Ich finde dies sehr interessant – diese 2 Verhaltensweisen scheint es auf jedem Gebiet zu geben.

    Elaine Aron gibt einem in diesem Buch auch die Aufgabe, alle Personen in seinem Umfeld aufzulisten, die einem guttun und die einem nicht guttun. Es kann auch eine Person auf beiden Seiten auftauchen. Diejenigen Personen, die nur auf der Gut-Seite auftauchen, sind meist Linking-Personen, diese sind also eher die Verbindungs-Menschen. Personen, die einem nicht gut tun, sind meist Menschen, die auf Rangordnung viel Wert legen.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Julia Bender

    Antworten
    • Hallo Frau Bender,

      es freut mich, dass Ihnen dieser Artikel weiterhelfen konnte! Vielen Dank auch für Ihren Link auf Aron’s Artikel. Ich habe zufällig bereits einen ähnlichen Blog-Beitrag geschrieben:

      Kooperation als Prinzip des Überlebens oder Darwin’s Irrtum

      Dieser bezieht sich auf die Forschungsergebnisse des Zellbiologen Bruce Lipton. Vielleicht auch interessant für Sie? Jedenfalls bezieht sich das, was Aron als „Ranking and Linking“ und ich als „Kooperation und Konfrontation“ beschreiben, auf das allgemeine Grundprinzip, während mein Streit-Artikel sich konkret mit den Konsequenzen dieser Verhaltensweisen befasst.

      Die von Aron gestellte Aufgabe, die Sie beschreiben, finde ich toll und sehr hilfreich! Bei mir sortiert sich da gerade auch einiges… ;-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara Kern

  2. Hallo Frau Kern,

    ich lese Ihren Blog regelmäßig, seit ich weiß, dass ich HSM bin und bin immer wieder begeistert von den anregenden Inhalten sowie Ihrer Art, diese zu transportieren!

    Diesen Beitrag über Konfliktlösungsstrategien habe ich leider erst jetzt „entdeckt“. Er ist für mich extrem spannend: Sie haben mir damit klargemacht, warum ich einen längerfristigen Konflikt in meinem Leben nicht lösen konnte – mein Gegenüber(Arbeitsbeziehung)ist ein starker „Nullsummenspieler“. Obwohl mir schon länger bewusst war, dass es ihm nur ums Gewinnen ging, hatte ich bis heute nicht wirklich verstanden, dass meine Art, mit den Konflikten umzugehen, für ihn „böse“ wirkte. Nun verstehe ich, warum mir eine Kooperation mit ihm nicht gelingen konnte.

    Bisher habe ich mich deshalb immer schlecht gefühlt und unfähig, sogar an meiner Hochsensibilität habe ich gezweifelt. Denn von dieser hatte ich mir im positiven Sinne erhofft, gute Beziehungen auch in schwierigem Umfeld führen zu können – eben weil wir Hochsensiblen so feinfühlig sind. Jetzt verstehe ich, dass dies nicht „automatisch“ klappt. Ich denke sogar, dass Beziehungen die Haupt-Herausforderung für Hochsensible sind.

    Ich habe meine schwierige Situation zwar beendet und spüre eine enorme Erleichterung darüber, muss mich in der Folge aber nun noch rechtlich damit auseinandersetzen (Das Gegenüber kann nicht verlieren …). Das macht mir sehr zu schaffen, und dank Ihres Blogbeitrages weiß ich nun auch warum: In Rechtsfragen geht es meist ums Gewinnen oder Verlieren, auch wenn ich auf eine Einigung hoffe. Haben Sie einen Tipp für mich, wie ich mit dieser Situation angemessen umgehen kann?

    Nochmals vielen Dank für die vielen aufschlussreichen Blogbeiträge!

    Siggi

    Antworten
    • Hallo Siggi,

      vielen Dank für Ihren Bericht, der so ein gutes Beispiel für das darstellt, was ich mit diesem Artikel gemeint habe!

      Beziehungen sind für uns Hochsensible in vieler Hinsicht eine Herausforderung: Zu den in Bezug auf Sensibilität normal Veranlagten, weil wir anders ticken als sie, das verstehen und überbrücken müssen; zu anderen Hochsensiblen, weil die Empfindsamkeiten und Verletzlichkeiten jeweils unterschiedlich gelagert sind; und letztlich zu uns selbst, weil wir als Minderheit in unserer Weise des Sein immer wieder hinterfragt werden und auch uns selbst stark hinterfragen. Was aber auch gesagt werden muss, ist, dass wir im Gegenzug die Chance haben, sehr viel intensivere und erfüllendere Beziehungen zu führen, weil wir eben sehr gründlich mit allem aufräumen können, was Beziehungen normalerweise eintrübt.

      Für Ihre jetzige Lage hätte ich einen Buchtipp:

      Statusspiele von Tom Schmitt und Michael Esser

      Dort wird ein sehr guter Weg aufgezeigt, wie man sich gleichzeitig Respekt verschafft und dabei dennoch sympathisch wirkt. Das können Sie jetzt brauchen, auch vor Gericht. Ich drücke Ihnen die Daumen, dass die Sache gut für Sie ausgeht! Und sollten Sie noch Fragen haben, immer gern. :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara Kern

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