Hochsensibilität, Abgrenzung und Aggression

Abgrenzung ist eines der wichtigsten Themen bei Hochsensibilität. Ich kenne keinen hochsensiblen Menschen, der sich von allein abgrenzen konnte – alle haben sich dies mehr oder weniger bewusst antrainieren müssen. Das liegt an unserer erniedrigten Reizschwelle, die macht, dass wir mehr von anderen mitbekommen und deswegen oft nicht wirklich wissen, wo wir eigentlich anfangen und aufhören und wo die anderen. In meinem Blog-Artikel In drei Schritten zu mehr Abgrenzung bei Hochsensibilität habe ich beschrieben, wie man sich diese Grenzen bewusst machen, akzeptieren und wahren kann. Doch in letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass dies bei vielen Hochsensiblen aus einem bestimmten Grund nicht funktioniert: Sie spüren ihre Aggressionen nicht! Dabei sind Ärger und Aggression ein wichtiges Warnsignal, das uns vermittelt, wann unsere Grenze überschritten wurde. Wenn man diese Aggression ausblendet, ist Abgrenzung unmöglich, da man gar nicht merkt, an welcher Stelle sie nötig ist. Da Hochsensibilität bewirkt, dass man sehr nachhaltig, gründlich und empathisch denkt, nehmen Hochsensible auch oft die Motive ihres Gegenübers wahr und vergessen dann vor lauter Verständnis für den anderen, wer sie selbst sind und dass das, was der andere tut, womöglich gerade ärgerlich für einen selbst ist und einen aggressiv macht. Der Umgang mit Ärger und Aggression ist deshalb für Hochsensible immens wichtig!

So denken Hochsensible oft…

Ein typisches Coaching-Gespräch mit einer Klientin hört sich dann ungefähr so an: Sie erzählt mir, dass ihr Vater sie zum sonntäglichen Treffen in einem Café ausgeladen hat, weil er nur ihre beiden Halbgeschwister aus seiner zweiten Ehe dabei haben will, die er ihr stets vorgezogen hat. Natürlich ist sie sehr traurig und ruft ihn aus lauter Verzweiflung noch mehrfach an, weil sie ihn auch sehen möchte. Er würgt sie am Ende sehr hart und unverschämt ab. Sie ist verständlicherweise sehr unglücklich darüber und fragt sich, was sie falsch gemacht hat.

Ich frage sie, ob sie ihm den gar nicht böse sei, denn immerhin hat er sich ihr gegenüber recht rüpelhaft und ungerecht verhalten. Sie beantwortet dies mit „Nein“, denn sie könne ihn ja verstehen, er sei ein alter Mann, dem eben ab und zu etwas zu viel würde. Außerdem weiß sie, was er in seiner Kindheit alles durchgemacht hat und warum er deswegen nicht zu warmherzigen Reaktionen in der Lage sei. Es folgt eine ausführliche Schilderung, wie schwer die Kindheit des Vaters war.

Es ist ja wunderbar, wenn Menschen so verständnisvoll und empathisch sind! Doch wenn man sich, wie diese Klientin, in jeden hineinversetzen kann, nur nicht in die eigene Lage, wird man auch nicht fähig sein, sich abzugrenzen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen.

Im Fall dieser Klientin habe ich ein wenig nachgehakt und ihr erklärt, dass sie ja einerseits jemand sei, der das Große Ganze im Blick habe, aber auf der anderen Seite eben auch ein Individuum mit einer eigenen Position. Da wurde ihr langsam klar, schon etwas genervt vom Verhalten ihres Vaters zu sein. Als wir uns das nächste Mal sprachen, war sie ein großes Stück weiter: Sie gab nicht mehr viel darauf, wie ihr Vater über sie dachte, sondern hörte auf das, wie sie über sich dachte. Weil sie über ihren Ärger, über ihre Aggression ihre Position gefunden hatte, war es ihr möglich, sich von ihrem Vater zu emanzipieren und sich angemessen von ihm abzugrenzen. Ihr ganzes Verhalten hatte sich von dem eines zurückgewiesenen Kindes zu einer erwachsenen, selbstbewussten Frau gewandelt. Es war wunderbar, das miterleben zu dürfen!

Der tiefere Sinn von Ärger und Aggression

Die Psychologin Verena Kast schreibt in ihrem sehr lesenswerten Buch Vom Sinn des Ärgers. Anreiz zur Selbstbehauptung und Selbstentfaltung*:

So regt Ärger an, Grenzen zwischen Menschen zu bereinigen, oder zumindest über Grenzen nachzudenken, aber auch, sich mit dem verletzten Selbstwert auseinander zu setzen. Diese Emotion reguliert Schwierigkeiten mit unseren Grenzen, reguliert unseren Selbstwert bei Erfahrungen von etwas Beleidigendem und/oder Aversivem, reguliert aber auch unsere Beziehung zum Unbewussten, unsere Beziehung zum Körper und unsere Beziehung zum Du, aber auch zur Gesellschaft. [S. 10]

Ärger fordert uns heraus, grenzbewusst zu werden und uns immer wieder zu überlegen, wo wir unsere Grenzen neu wieder setzen. [S. 20]

Ist die Ärgerkontrolle zu gut gelungen, durch Erziehung und Selbsterziehung, haben Sie gelernt, sich in jeder Situation zu beherrschen, dann wird es für Sie unter Umständen sehr schwierig, mit dem Ärger konstruktiv umzugehen. [S. 28]

Über das Motiv des letzten Zitates habe ich sogar, lange bevor ich das Buch kannte, einen Blog-Artikel geschrieben: Zu lieb sein macht böse

Verena Kast hat auch eine sehr gute Erklärung dafür, warum es uns oft so schwerfällt, unsere Aggressionen und unseren Ärger bewusst wahrzunehmen und zuzulassen: Wenn wir uns über jemanden ärgern, stellen wir uns spontan vor, wie es wäre, diese Aggression einfach auszuleben. Dabei wird uns schnell klar, dass wir damit auch beim Gegenüber Ärger und Aggression auslösen. Das macht uns wiederum Angst. Deswegen ist an das Empfinden von Ärger und Aggression immer auch an Angst gekoppelt – es macht uns Angst, uns über andere zu ärgern, wir haben Angst, diese Beziehung zu gefährden, einen eskalierenden Konflikt zu provozieren und der Gegenreaktion unseres Gegenübers nicht gewachsen zu sein.

Einerseits ist das eine gute Sache, denn diese Angst macht, dass wir nicht einfach herausplatzen, sondern uns überlegen, wie wir mit unserem Ärger und unseren Aggressionen in der jeweiligen Situation am besten umgehen. Doch andererseits kann die Angst auch dazu führen, dass wir unsere Aggressionen verdrängen und am Ende gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Dies hat mehrere negative Konsequenzen:

  • Wir merken nicht mehr, wann andere unsere Grenzen verletzen.
  • Unsere Ärger-Reaktionen verschieben sich ins Unbewusste, sodass wir keine Kontrolle mehr darüber haben.
  • Ärger und Aggression haben eine energetisierende Wirkung: Nehmen wir sie nicht wahr, fehlt uns auch die Energie, um uns selbst zu behaupten.

Wie du mit Ärger und Aggression konstruktiv umgehst

  • Zuerst einmal ist es wichtig, dass du dich nicht als „böse“ empfindest, wenn du ärgerlich wirst. Ärger und Aggression sind eine ganz normale Reaktion darauf, dass deine Grenzen überschritten wurden. Lasse diese Gefühle ganz und gar zu und nehme dich dabei genauso an, wie du bist!
  • Halte den Ärger aus: Ärger und Aggression zuzulassen und zu empfinden heißt nicht, dass man sich auch feindselig verhalten muss! Spüre erst einmal in deinen Ärger hinein, ohne gleich zu handeln. Die wichtige Information, die du aus deiner Aggression bekommst, ist, welche Grenze und wodurch diese gerade überschritten wurde.
  • Sobald du das weißt, kannst du die Grenzüberschreitung gezielt, klar und deutlich ansprechen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Gegenüber Gehör zu finden, ist am größten, wenn du dies tust, ohne selbst Grenzüberschreitungen und Übergriffe zu begehen. Mehr dazu kannst du in meinem Blog-Artikel In drei Schritten zu mehr Abgrenzung bei Hochsensibilität nachlesen.

Ärger und Aggression fordern in jedem Fall eine Veränderung! Wenn du Recht mit dem hast, worüber du dich ärgerst, muss dein Gegenüber etwas ändern. Wenn du Unrecht hast, z.B. weil du dich nur aufgrund eines Missverständnisses ärgerst, muss auch das geklärt werden. In diesem Fall wirst du dich ändern müssen und deinen Ärger zurücknehmen, sobald sich das Missverständnis aufgelöst hat.

Und was ist mit der Harmonie, die wir als Hochsensible so lieben?

Harmonie ist etwas, das sich von allein einstellt, wenn Ärger und Aggressionen geklärt und die Grenzen bereinigt wurden. Du kannst Harmonie nicht irgendwie „machen“ oder bewusst herstellen. In dem Moment, wo eine Grenze überschritten wurde, stellt sich unweigerlich Ärger ein. Wenn du diesen um des lieben Friedens willen herunterschluckst, entsteht keine Harmonie, sondern unbewusste Aggression, die sich ihren Weg auf irgendwelchen Bahnen sucht, die du nicht mehr unter Kontrolle hast und die du am Ende bereuen wirst. Von daher ist der einzige Weg, mit anderen möglichst viel harmonische Zeiten zu erleben, Grenzen stets sauber zu bereinigen.

Mache dir bewusst, dass die meisten Grenzverletzungen nicht in böser Absicht geschehen, sondern aus Versehen. Je näher man sich kommt, umso leichter passiert es, dass man dem anderen unabsichtlich auf den Fuß tritt. Ohne Ärger und Aggression und die damit verbundene Abgrenzung ist deswegen auch keine Nähe möglich – sie wäre sonst viel zu gefährlich für uns!

Literaturtipp: Verena Kast, Vom Sinn des Ärgers. Anreiz zur Selbstbehauptung und Selbstentfaltung*, Herder Verlag 2010

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4 Gedanken zu „Hochsensibilität, Abgrenzung und Aggression“

  1. Liebe Barbara,

    ich war ein wenig erschrocken wie du das Beispiel mit deiner Klientin beschreibst. So ähnlich sass ich bei meiner Psychologin und habe von meinem Vater gesprochen. Überhaupt kenne ich es sehr gut andere Menschen vor mir selbst in Schutz zu nehmen. Ich hab für andere Menschen mehr Verständnis als für mich. Ich weiß auch woran das liegt (Erfahrungen in der Kindheit im Elternhaus, Schule usw). Es jedoch vom theoretischen Verständnis ins Herz zu bekommen, ist sehr schwierig. Ich arbeite daran. Meine Grenzen kann ich immer besser formulieren. Aber es ist echt ein Angang jedes Mal und kostet so viel Energie. Ich hoffe es geht mir irgendwann in Fleisch und Blut über.
    Du schreibst außerdem:
    „ Wenn wir uns über jemanden ärgern, stellen wir uns spontan vor, wie es wäre, diese Aggression einfach auszuleben. Dabei wird uns schnell klar, dass wir damit auch beim Gegenüber Ärger und Aggression auslösen. Das macht uns wiederum Angst. Deswegen ist an das Empfinden von Ärger und Aggression immer auch an Angst gekoppelt – es macht uns Angst, uns über andere zu ärgern, wir haben Angst, diese Beziehung zu gefährden, einen eskalierenden Konflikt zu provozieren und der Gegenreaktion unseres Gegenübers nicht gewachsen zu sein.“
    Es ist haargenau so. Ich bin bei meiner Psychologin zur Verhaltenstherapie wegen einer Angststörung. Sie hat mir sehr geholfen die Panikattacken zu überwinden. Im Moment kommen wir nur nicht wirklich weiter und ich werde auf ihre Empfehlung hin eine Traumadiagnostik machen.
    Ich habe das Gefühl in meinem Körper ist viel gespeichert. Körperlich bemerke ich das in verschiedenen Körperteilen mit Anspannung, die zu Schmerzen und Schwindel führen. Mein Osteopath hat schon viel bewirkt. Da sich jedoch die Spannung wieder aufbaut, bringt es nur kurzfristig etwas. Im Verhalten sehe ich bei mir zu schnelles Essen, schneller Reden, schnelles Spazierengehen. Als wenn ich weglaufe oder etwas schnell hinter mich bringen will, um wieder Ruhe zu haben. Abends geht es mir am Besten, weil ich weiß, dass ich nichts mehr tun muss, außer schlafen.
    So hoffe ich, dass die Möglichkeit einer Traumatherapie noch etwas Linderung bringt. Wenn nicht, möchte ich eine Möglichkeit finden, dass das ganze theoretische Verständnis, das ich über meine Situation habe, in mein Herz rutschen kann. (Seit über 10 Jahren beschäftige ich mich nun mit HS und habe schon eine ganze Bibliothek und viel Wissen. Im Kopf. Nicht im Herz).
    Also vielen Dank, Barbara, über deinen Artikel, der wie so viele andere von dir mir wieder zeigt, dass ich ok bin und nicht allein.

    Liebe Grüße
    Christina

    Antworten
    • Liebe Christina,

      vielen Dank für Dein nettes Feedback und Deinen Bericht! Tut mir leid, dass es Dir trotz allem, was Du bisher unternommen hast, noch nicht gut geht. Ich denke, dass es für Dich ganz wichtig sein könnte, mit Deinem Ärger in Kontakt zu kommen. Ich habe eine kleine Übung für Dich:

      Nimm Dir bitte eine Situation mit irgendeinem Alltagsärger vor, also nicht gleich in den Kern Deiner Probleme gehen! Einfach etwas Kleines, was Dich hätte ärgern müssen. Und dann setzt Du Dich hin, schließt Deine Augen und öffnest Dich ganz und gar für Dich und Deine Gefühle. Lasse Deinen Ärger hochkommen und spüre ihn einfach nur. Du bist absolut sicher, weil Du ja nicht handelst, sondern ihn nur spürst. Gefühle, die man ganz und gar zulässt, sind nach fünf Minuten wieder vorbei. Halte diese fünf Minuten durch und spüre den Ärger. So kommst Du wieder in Kontakt mit Deinen Gefühlen und Deiner Position im Leben. Wenn das geklappt hat, kannst Du Dir nach und nach schwierigere Situationen vornehmen. Ich hoffe, das hilft Dir erst einmal weiter!

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  2. Ich stelle gerade erstaunt fest dass ich auch oft das Verhalten meiner Mutter mir gegenüber oft damit heruntergespielt habe indem ich erklärt habe dass sie selbst auch schon viel durchgemacht hat und es mit ihrer eigenen Mutter nicht leicht gehabt hat.
    Nun, das ist lediglich eine Erklärung aber keine Entschuldigung. Es ist nie zu spät an sich zu arbeiten und ein besserer Mensch/eine bessere Mutter zu werden. Sie hätte das tun können, hat sie aber nicht und ich habe ein recht darauf mich darüber zu ärgern.

    Vielen, lieben Dank.

    Antworten
    • Liebe Yvonne,

      danke Dir für Deinen Bericht! Genau, nur weil man eine schwierige Kindheit hatte, ist das kein Grund, sich schlecht zu benehmen. Wir haben alle auch eine Wahlmöglichkeit und können sehr wohl an uns arbeiten. Du darfst Dich über sie ärgern! :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

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