Mein Mauerfall – Zeitgeschichte hochsensibel

Der Mauerfall jährt sich nun zum 30. Mal, und meine Erinnerungen daran werden durch die vielen Berichte im Fernsehen wieder lebendig. Diesen Blog-Artikel habe ich ursprünglich zum 25. Jahrestag geschrieben. Damals wurde mir bewusst, dass auch ich eine interessante Mauerfall-Geschichte aus meiner Sicht als Hochsensible erlebt habe. Jetzt habe ich diesen Artikel aktualisiert und um einen Absatz erweitert. Meine Mauerfall-Geschichte beginnt lange vor diesem Ereignis. Ich bin als Kind während des kalten Krieges aufgewachsen, ganz in der Nähe der BASF, einer riesengroßen Chemiefabrik. Ständig drohte der Atomkrieg, bei dem es sicher war, dass, wenn die Bomben fallen, dies in Deutschland geschehen würde. Und die BASF wäre wahrscheinlich eines der Hauptziele gewesen. Die Atmosphäre, in der ich aufgewachsen bin, war auf subtile Weise bedrückend, und ich als hochsensibles Kind habe das in besonderem Maße registriert.

Alpträume der 1980er Jahre

In den späten 1970er und den frühen 1980er Jahren wurde ich regelmäßig von Alpträumen geplagt, dass der Atomkrieg losgeht. Ich sah die Flugzeuge über unser Haus fliegen und die Bomben abwerfen, sah die schreckliche Explosion, das gleißende Licht, den Atompilz, woraufhin ich meist schweißgebadet hochschreckte. Meine ganze Kindheit war von dieser unterschwelligen Angst geprägt, dem Gedanken, dass jederzeit auf Knopfdruck alles vorbei sein kann.

Dies mündete während meiner Teenagerzeit in die „no future“-Generation. Das Lebensgefühl der 1980er Jahre in West-Deutschland war intensiv vom kalten Krieg, vom Wettrüsten und von Umweltverschmutzung geprägt. Der Rhein bei Ludwigshafen war eine stinkende, mittelbraune Brühe, in die man nicht einmal wagte auch nur einen Zeh hineinzutauchen. Der Pfälzerwald war vom sauren Regen gepeinigt und vom Waldsterben bedroht. Die Luft stank nach Chemie, sie roch ähnlich wie die Gasnarkose, die ich als Achtjährige bei meiner Mandeloperation bekommen hatte. Mir wurde regelmäßig schwindlig von diesem Odem. All das setzte sich zu einer Art Weltuntergangsszenario zusammen. Mir kam es damals so vor, als hätte ich nicht lange zu leben. Sich unter diesen Umständen eine Zukunft aufzubauen, schien sinnlos. Ich lebte in den Tag hinein.

Das geteilte Berlin von 1986

Mit zwanzig, das war 1986, war ich zum ersten Mal in Berlin. Ein intensives Erlebnis, das meine Eindrücke von zu Hause bestätigte. Überall war Mauer, überall Begrenzung, Militär, Waffen. Auf den Straßen sah man viele Heroinabhängige. Sie lehnten an irgendwelchen Hauswänden oder saßen auf Mauervorsprüngen, den Kopf nach vorn geneigt. Sabber floss aus ihrem Mund und tropfte auf den Gehweg. Eine Nebenwirkung des Heroins, wie ich von meinem Berlin-erfahrenen Freund erfuhr.

Wir kamen an Straßen vorbei, die von Punks geprägt waren. Das waren aber keine Mode-Deko-Punks, wie man sie später im Westen sah, sondern gewaltbereite, aggressionsgeladene Menschen, denen man besser aus dem Weg ging. Wir kamen auch an besetzten Häusern vorbei; die Aggressivität zwischen den Hausbesetzern und der Polizei war für mich so massiv spürbar, dass man sie hätte in Scheiben schneiden und wegtragen können.

1966 geboren, kannte ich es nicht anders. Es gab nur kalten Krieg, geteiltes Deutschland und stinkende Chemiefabrik. All das kam mir ewig und unverrückbar vor. Dann kam Gorbatschow. Es war, als wäre da plötzlich ein Mensch an der Spitze der Sowjetunion. Vorher waren mir all diese Männer nur wie eiskalte Figuren eines merkwürdigen Endzeit-Comics vorgekommen. Im Vergleich dazu war Gorbatschow eine Lichtgestalt. Was dann 1989 passierte, sprengte für jemanden wie mich jeden Rahmen: dass die Leute auf die Straße gingen und man sie ließ, dass keine Panzer rollten, keine Schüsse fielen.

Als die Grenze fiel, wusste ich: Da muss ich hin!

Als die Grenze am 9.11. 1989 geöffnet wurde, war das für mich ganz unbegreiflich. Die Bilder aus Berlin im Fernsehen waren so voller Energie und Freude. Ich wusste nur eins – da muss ich hin! Mein Freund, sein Bruder, meine Schwester und ich beschlossen, uns in mein kleines Auto zu setzen und hinzufahren. Wie lange wir im Stau stehen würden, weil in diesem Moment alle nach Berlin wollten, war uns dabei vollkommen egal.

Mein Vater war begeistert von unserem Plan, aber gleichzeitig auch besorgt, sodass er uns kurzerhand Flüge nach Berlin spendierte. Ich schaffte es tatsächlich, so ziemlich die letzten Flüge und so ziemlich die beiden letzten Hotelzimmer zu buchen. Das war ein großes Glück, denn unsere Berlinreise war auf diese Weise so leicht, dass wir die Atmosphäre dort dann voll und ganz genießen konnten, was mir als hochsensiblem Menschen sonst sicher nicht auf diese Weise möglich gewesen wäre.

Und dann waren wir dort. Die Menschen auf der Mauer, die Mauerspechte, Trabbis, deren Insassen von allen voller Freude willkommen geheißen wurden, wir waren mittendrin. Auch wir haben ein kleines Stückchen Mauer herausgehackt. Das war ganz schön schwer, die war wirklich stabil gebaut! Dieses Mauerstückchen habe ich noch lange Zeit aufbewahrt, leider muss es später bei einem meiner Umzüge verloren gegangen sein.

Abends sprach sich herum, dass es ein kostenloses Konzert geben würde. Dort trat u.a. Nina Hagen auf, Nena hatte ihr Comeback nach einer längeren Pause und trällerte drei Liedchen unplugged, nur mit der Gitarre in der Hand, darunter natürlich „Wunder geschehn“.

Berlin nach dem Mauerfall – Euphorie pur

Die Atmosphäre war einfach unbeschreiblich. Es war wie ein endloser Moment des Sektkorkenknallens, der Augenblick, in dem der Druck zum Durchbruch führt und endlich Befreiung einsetzt. Jeder lachte jeden an, es war alles so unbändig fröhlich und gleichzeitig friedlich, aber keine zahme, sondern eine energiegeladene, temperamentvolle Friedlichkeit.

Ich habe es tatsächlich gebraucht, das live zu erleben. Nach all der subtilen und festgefahrenen Hoffnungslosigkeit während meiner Kindheit hätte ich es sonst wohl nicht wirklich begreifen können. Für mich war das der Moment, in dem mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich eine Zukunft habe, die ich mir gestalten kann, und dass das tatsächlich Sinn macht. Ein schier ewig wirkender Alptraum kam auf diese Weise doch noch zu seinem Ende.

Dienstags darauf hatte ich Bandprobe und meine Mitmusiker improvisierten einige fröhliche und kraftvolle Klänge. Ich dichtete, noch unter Einfluss meines Berlinbesuchs, folgenden Text dazu:

Wo man nicht in Freiheit lebt, will keiner hin,
Denn Mauern kann man nur ertragen mit Löchern drin.
Sowas steckt an, es ist so weit,
Es geht voran in eine bessere Zeit!

Mein nächster Berlinbesuch fand dann erst 2003 statt. Es war wunderbar, ganz Berlin besuchen zu können, und zu sehen, wie die Stadt sich zum Positiven verändert hat…

2019 – das Ende der Euphorie?

Die anfängliche Euphorie wurde jedoch bald von der Realität eingeholt. Während das Leben der Westdeutschen nach der Wiedervereinigung fast unverändert weiterging, kamen auf die Mitbürger der neuen Bundesländer sehr einschneidende Veränderungen zu. Natürlich gab es dabei auch Wende-Gewinner, Menschen, die sich im westdeutschen System gut zurechtfanden, die Freiheit genießen und sich etwas Neues aufbauen konnten. Aber für viele bedeutete die Wende einen gewaltigen Bruch in der Biografie, der regelrecht traumatisch ausfallen konnte.

2010 kam ich damit erstmals in Berührung. Damals lernte ich über ein Internet-Forum eine sehr nette, begabte und interessante Frau aus dem Osten kennen. Sie war Rechtsanwältin und hatte zu DDR-Zeiten eine gute Führungsposition in einem Betrieb gehabt. Nach der Wende wurde dieser Betrieb abgewickelt und sie verlor ihre Arbeit. Sie versuchte, sich als Rechtsanwältin selbstständig zu machen, doch das scheiterte, weil es zu viele gab, die auf die gleiche Idee gekommen waren.

Zu der Zeit als ich sie kennenlernte, hatte sie eine halbe Stelle als Reporterin einer Lokalzeitung. Sie liebte diese Arbeit, aber sie war sehr arm und wohnte in einem winzigen Anbau am Haus ihrer Eltern. Dort musste sie mit Holz heizen, denn eine Zentralheizung gab es nicht. Es blieb ihr aber nichts anderes übrig, denn Miete hätte sie sich nicht leisten können. Da sie schon Mitte 50 war, hatte sie keine Chance mehr auf eine Besserung ihrer Lage. Sie war teils sehr verzweifelt.

Und solche Schicksale gab es eben viele. Wenn ich mir die Fernseh-Dokumentationen zum 30jährigen Mauerfall-Jubiläum ansehe, ist die Euphorie, die vor fünf Jahren noch vordergründig behandelt wurde, etwas in den Hintergrund getreten. Heute geht es in erster Linie darum, die Schwierigkeiten und Fehler der Wende-Zeit aufzuarbeiten. Besonders wichtig finde ich persönlich, dass jetzt auch die biografischen Brüche gewürdigt werden, wie schwer es für viele Ostbürger nach der Wende war und wie hart sie teils zu kämpfen hatten, weil sie von jetzt auf gleich in eine große Unsicherheit und ungewisse Zukunft stürzten.

Trotzdem war der Mauerfall ein wunderbares und einzigartiges historisches Ereignis, das wir zum Großteil den Menschen im Osten zu verdanken haben, ihrem friedlichen Protest, ihrem starken Willen zur Veränderung und ihrem Mut, sich einem totalitären Regime entgegenzustellen.

Wie hast du den Mauerfall und die Wende-Zeit erlebt? Ich freue mich über deinen Kommentar!

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8 Gedanken zu „Mein Mauerfall – Zeitgeschichte hochsensibel“

  1. Ihre Eindrücke, Frau Kern, teile ich weitgehend.

    Was mich selbst betrifft, habe ich noch weiter zurückgehende Empfindungen; ich bin nämlich 1950 geboren und habe an die deutsche Teilung und an die Berlin-Problematik viel weiter zurückgehende Empfindungen, da die Familie meiner Mutter aus Berlin stammt, und da wurden die Berlin-Krisen, die es immer wieder gab, sehr stark thematisiert, insbesondere, da die Großeltern noch in Berlin lebten.

    Zusätzlich waren unsere Eltern – man möchte beinahe sagen, natürlich – durch den zweiten Weltkrieg und die Folgen extrem traumatisiert (mein Vater war Stabsarzt im Krieg und hat schreckliches gesehen).

    So bin ich, und auch mein Bruder ist es, der geschichtlichen Vorgänge sehr gewärtig, von der Mauer bis zur Wende…

    Bei allen verständlichen Befindlichkeiten, die heute vorliegen und diskutiert werden, erlaube ich mir den Hinweis, dass in der Nachkriegszeit extrem existenzielle Anforderungen an die Menschen da waren, die heute nicht so extrem sind.

    Die Wende war schwierig, und ist es noch, ich mag mir aber nicht vorstellen, wie das schon in Erstarrung geratende Westdeutschland und die noch weiter erstarrte DDR ohne die Wende ausgsehen hätten…

    In diesem Sinne,
    freundliche Grüße.

    Antworten
    • Lieber Johannes,

      vielen Dank für Deinen Bericht! Sehr schön, dass Du (ich hoffe, „Du“ ist in Ordnung?) meine Geschichte durch Deine Schilderungen noch erweitert und in den großen Zusammenhang von Anfang bis Ende gestellt hast. Das finde ich sehr wertvoll!

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  2. Liebe Anne- Barbara,
    ich finde Deinen Blog zu 30Jahre Mauerfall wunderbar. Als die Mauer fiel war ich 7Jahre jung. Mein Vater ging damals bereits viele Monate regelmäßig zu den Montagsdemonstrationen in unserer Stadt und es wurden Woche um Woche mehr Menschen, die sich diesen Treffen anschlossen. Damals war das eine aufregende Zeit.
    Am Tag des Mauerfalls schauten wir fern und meine Eltern konnten es nicht fassen, sie waren überglücklich, dass sie endlich reisen konnten! Mit unserem Wartburg fuhren wir am nächsten Tag über die bayerische Grenze und besuchten nach 5 Jahren endlich meine Tante. Sie war 1984 ausgereist und geflüchtet mit ihrer Familie, sie hielt das Leben in der DDR nicht mehr aus. 5Jahre hatten wir keinen Kontakt zu ihr, da wir ja kein Telefon hatten und die DDR komplett von der BRD abgeschnitten war. Das Treffen war eine Familienzusammenführung, es war sehr schön!
    Der Mauerfall war für meine Familie ein Glücksumstand! Meine Familie gehört zu den Wende Gewinnern. Die gute medizinische Versorgung ab 1992 führte dazu, dass meine Mutter besser mit ihrer Krankheit leben konnte und endlich passende Hilfsmittel erhielt. Mein Vater behielt seinen Job und wurde später Chef. In unserer Stadt wurden viele verfallene Gebäude aufgebaut und endlich saniert.
    Wie toll, dass wir seit 30Jahren ein gemeinsames Deutschland sind!
    Viele Grüße von Katrin

    Antworten
    • Liebe Katrin,

      vielen Dank für Dein nettes Feedback und Deinen Bericht von der anderen Seite der Mauer! Ich bin gerade sehr bewegt, ergriffen und gerührt und auch sehr froh, dass wir jetzt ein Deutschland sind und auf diesem Wege frei kommunizieren können.

      Schön, dass das für Eure Familie alles so gut ausgegangen ist! :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  3. Liebe Anne-Barbara Kern,
    vielen Dank für Deinen mich berührenden Artikel zum Mauerfall. Aus den Kommentatoren danke ich. Ich bin 1951 geboren und unter der Weltvernichtungsangst auch aufgewachsen. Habe deshalb geglaubt, die Menschheit retten zu müssen und so meinen Beruf gewählt als Philosophin und Ethikerin. Ich wohnte in Berlin an der Mauer, Wollankstrasse. In der Bornholmerstrasse stand ich oft mit meinem 7 jährigen Sohn an der Grenze, weil er die unfassbar gefährlich aussehenden Grenzsoldaten mit ihren Gewehren hinter den Schlagbäumen sehen wollte. Dass mitten auf der Strasse eine Todesgrenze sein kann, hat ihn völlig fassungslos sein lassen.
    Nach der Wende habe ich mitgekämpft für die neuen ethischen Schulfäcer in Brandenburg und Sachsenanhalt. Ich habe viele Ostlehrer ausgebildet und deren persönliche Situationen kennen gelernt. Sie waren aus der Zeit gefallen.
    Dass ich selber Hochsensibel bin habe ich sehr spät im Leben verstanden, auch dass es dafür genetische Bedingungen gibt.Es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn mir das jemand als Jugendliche erklärt hätte, dann hätte ich meine Berufsaugenmerk woanders hinrichten können.Die Arbeit mit Menschen hat mein Nervensystem äußerst belastet. Jetzt versuche ich als 68 jährige Frau, dem Schönen im Leben zu begegnen und mein Nervensystem zu heilen. Ich leben am Meer in Andalusien und geniese jeden Tag die SOnne und das Leben. So schnell geht es nicht unter.Auch nicht jetzt wegen dem Klima, obwohl wir Etliches dafür tun müssen.
    Annegret Stopczyk

    Antworten
    • Liebe Annegret,

      vielen Dank für Dein nettes Feedback und Deinen Bericht, der mich auch sehr berührt! Ich finde es toll, wie Du Dich engagiert hast, kann aber auch gut verstehen, wie anstrengend das für Dich gewesen sein muss. Ich freue mich für Dich, dass Du es heute gut hast und in einer heilsamen Umgebung lebst. Vielen in Deinem Alter geht es wie Dir – sie hätten gern eher von ihrer Hochsensibilität erfahren! Leider wäre das frühestens um die Jahrtausendwende überhaupt möglich gewesen und so richtig schwappte die Forschung von Elaine N. Aron erst ab 2010 über den Teich. Aber Du kannst auch jetzt noch eine Menge für Dich tun und so wie Du es beschreibst, machst Du das ja auch! :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  4. Liebe Leserinnen und Leser
    2 Jahre nach dem Krieg und 1 Jahr vor der Währungsreform kam ich in einer Großstadt nahe des Ruhrgebietes zur Welt. Alte Fotos zeigen, wie verdreckt die Luft damals war und ich reagierte schon vor meinem ersten Geburtstag mit schwersten Asthmaanfällen, die mich über Jahrzehnte begleiteten.

    Kuchen gab es bei uns selten und war etwas ganz besonderes, Torte war etwas für die Reichen, nicht für uns. Bis heute ist z.B. die Vorstellung sich Essen ins Haus zu bestellen, für mich absurd. Mein damaliges und weiteres Leben war und ist geprägt von der Angst, den mühsam erreichten Standard nicht halten zu können.

    Was mich heute noch sprachlos macht: Die Folgen des Krieges waren allgegenwärtig. Aber es wurde weder gefragt, noch darüber gesprochen. Es kamen irgendwelche nebulösen Fetzen wie, „er war gerade 18, groß und blond und musste zur SS“ – keine Ahnung was dieser Satz sagen sollte -, der andere Onkel war „mit Rommel in Afrika“ und die alten Kammeraden trafen sich einmal jährlich mit Gemahlinnen. Was um alles in der Welt wollte der Onkel in Afrika und wer war Rommel. Die Krönung ist für mich heute der Ausspruch meiner Mutter, einer Frau, die in Lazaretten gearbeitet hatte, „wir haben nichts gewusst, wir haben uns immer nur gefragt, warum es manchmal so stinkt“. Heute weiß ich, dass dann in den Krematorien Menschen verbrannt wurden.

    Der ehemalige Kollegin meiner Mutter, die in der DDR wohnte, bekam regelmäßig Päckchen. Als guter Christ half man den Armen.

    „Die“ Russen vergewaltigten deutsche Frauen, nahmen ihnen ihre Uhren weg und vergewaltigten sie. Irgendwie hat sich bei mir festgesetzt, dass sie auch kleine Kinder „fressen“. So etwas fing ich als Kind auf, ohne weiter nachzufragen.

    Interesse und Bewusstsein für das was war und gewesen war kam mit dem Vietnamkrieg und dem Fernsehen. Aber ich war niemand, der auf die Straße gegangen wäre, hier hörte mein Mut auf. Die DDR war und blieb ein weißes Tuch, auch bei uns gab es Täler der Ahnungslosen. Bis ich Anfang der 70er Jahre studierte und später einen politisch sehr aktiven Mann heiratete. Unter Studenten wurde SBZ mit „sozial bessergestellte Zone“ übersetzt. Viele Errungenschaften, die „drüben“ selbstverständlich waren: Krippe, Hort, Ganztagsbetreuung, Sicherheit am Arbeitsplatz, Polytechnische Oberstufe usw. versuchen wir heute mehr oder weniger stümperhaft aufzubauen. Dass Jugendliche im Westen 50 – 100 Bewerbungen schrieben und trotzdem keine Lehrstelle fanden, war im Osten sicher genau so wenig bekannt wie die Verzweiflung der berufstätigen Mutter, wenn der Babysitter plötzlich krank wurde und sie Angst um ihren Arbeitsplatz haben musste.

    Mitte der 80er zog es uns in den Norden, ca.30 km von der Innerdeutschen Grenze entfernt. Durch die Autobahn war der Grenzübergang an der B 5 gespenstisch verweist. Irgendwie hörte auch hier das Denken an der Grenze auf und unser Wissen um dass, was dahinter war. Wir waren die Bundesrepublik Deutschland und irgendwie auch die richtigen, besseren Deutschen. Anders war es wahrscheinlich bei denen, die regen verwandschaftlichen Kontakt hatten.

    Die Grenzöffnung bedeutete für mich erst einmal, dass sich auf der B 5 zwischen Boizenburg und Hamburg ein Trabbi an den anderen reihte und alles jubelte. Menschen, die früher vollkommen unpolitisch waren, füllten ihren Kofferraum mit Bananen und fuhren an die Grenze um sie zu verteilen und fühlten sich dabei toll. Selbst eine eigene Zigarettenmarke „go west“ kam auf den Markt. Kleine Packungen wurden als Willkommensgeschenke an der Grenze verteilt.

    Ich hatte schon immer und habe Angst vor Menschenansammlungen. Egal ob Karnevalssitzung, Fußballspiel, Demo oder Openair Konzert. Allein aus diesem Grund machten mir diese Massen mehr als Angst.

    Unter den Menschen um mich herum brach etwas wie eine Massenhysterie aus. Wer nicht mitjubelte sondern nachdachte und meinte, dass es sicher nicht so schnell und einfach werden würde, wie manche Politiker versprachen, wurde übel beschimpft, falls er überhaupt gehört wurde.

    In mir hat dieses Ereignis ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit, Verzweiflung, Unfähigkeit etwas zu erreichen, oder mir Gehör zu verschaffen hinterlassen. Ich wurde nicht gefragt, ich wurde nicht gehört und meine Meinung interessierte niemand. Sicher war ich in Ost und West nicht die Einzige, die so gefühlt hat. Wir hätten an das Saarland denken müssen und gewusst, so einfach geht das nicht. Wir hätten einen Plan und viel, viel Zeit gebraucht.

    Besonders um die Menschen, die überzeugt von dem waren, was sie sagten und taten, die mit ganzem Herzen bei der Sache waren ohne Schaden anzurichten, hatte ich Angst. Denen wurde plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen.

    Wenn wir an den Mauerfall denken, sollten wir neben allem Jubel vielleicht auch an die vielen, vielen Verlierer der Wende im Osten und im Westen denken.

    Es macht es mich traurig und ich schäme mich für manches, was dem Osten und vielen Bürgern der DDR im Zusammenhang mit der Wende angetan wurde. Nicht nur für die Treuhand. Langsam wird auch hierrüber geredet.

    Ich wünsche uns für die Zukunft kluge, kompetente BürgerInnen und PolitikerInnen, die nachdenken, bevor sie Entscheidungen treffen.

    Elke

    Antworten
    • Liebe Elke,

      besten Dank für Deine ausführliche und nachdenklich stimmende Sicht auf dieses Ereignis! Ich finde, das ist eine gute Ergänzung zu dem, was bisher geschrieben wurde.

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

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