Vom Nutzen der Nutzlosigkeit – hochsensibel im Beruf

Ein guter Freund von mir, der auch hochsensibel ist, war am Samstag auf einem Klassentreffen, wo er seinen Schulkameraden nach 30 Jahren wieder begegnete. Obwohl er sich über das Wiedersehen gefreut hatte, wirkte er doch am Tag darauf recht bekümmert. Es nagte an ihm, dass einige Leute, die in der Schule weniger gute Noten als er geschrieben hatten, es zu schönen Karrieren im wissenschaftlichen Bereich gebracht haben und teils sogar Professorentitel tragen. Mein Freund hingegen hatte, damals noch ohne das Phänomen Hochsensibilität zu kennen, stets Rücksicht auf seine Konstitution nehmen müssen. Bereits während seiner Diplomarbeit ging es ihm so schlecht, dass ihm klar wurde, dem Druck einer wissenschaftlichen Karriere nicht gewachsen zu sein. Um an diesem Druck nicht zu zerbrechen, hatte er trotz hoher Intelligenz und guter Begabung darauf verzichtet, einen Doktortitel zu erwerben und sich beruflich in eine ganz andere Richtung orientiert. Dieser Beruf hat ihn nun über zwei Jahrzehnte lang getragen. Er hat Freude daran, genug Zeit für sich und seine Familie und verdient ausreichend Geld. Da er im Fall einer Beförderung diese Tätigkeit nicht mehr hätte ausüben können, hat er sämtliche Angebote in dieser Richtung zurückgewiesen, bis auf eine, die es ihm erlaubte, weiterhin seinen geliebten Job zu machen.

Mein Vorbild des berufstätigen Hochsensiblen in der Krise

Für mich war dieser Mensch immer ein Vorbild des berufstätigen Hochsensiblen gewesen. Er hat ein hervorragendes Gespür dafür, was er sich auf Dauer zumuten kann und was nicht, und hat frei von irgendwelchen Eitelkeiten sämtlichen Versuchungen, die ihn davon hätten abbringen können, widerstanden. Zudem hat ihm seine Hochsensibilität stets dabei geholfen, sich die richtigen Arbeitsstellen zu suchen, nämlich dorthin zu gehen, wo es wenig Druck und interessante Projekte gab. Dies hat er mit fast hellseherischen Fähigkeiten schon bei den Vorstellungsgesprächen gespürt und immer Recht damit behalten. Wenn ich daran denke, wie viele hochsensible Menschen in meinen Coachings berufliche Probleme haben, und welche Probleme auch ich in diesem Bereich hatte, kann ich diesen Freund einfach nur bewundern.

Vor diesem Hintergrund war ich zunächst einigermaßen ratlos, als er mir von seinem Kummer berichtete. Er war übrigens selbst erstaunt, dass ihm das so viel ausgemacht hatte, denn bisher hatte er gedacht, im Reinen mit sich zu sein. Jetzt rebellierte er gegen seine Hochsensibilität, weil sie ihm die „schöne“ wissenschaftliche Karriere „vermasselt“ hatte. Und das, obwohl ihm seine ehemaligen Schulkameraden auch von den Kämpfen berichtet haben, die sie durchstehen mussten. Sie hatten lange Jahre befristete Arbeitsstellen ertragen müssen, um Forschungsgelder gekämpft, 12-Stunden-Tage absolviert, wenig Geld verdient und am Ende nur mit viel Glück eine feste Stelle bekommen. Auch waren sie ja nicht glücklicher als er, eben nur in seinen Augen weiter gekommen.

Diese Geschichte fiel mir ein, um ihn zu trösten

Als ich darüber nachdachte, wie ich ihn trösten und beruhigen könnte, fiel mir eine Geschichte aus dem Zhuangzi wieder ein. Das Zhuangzi* ist ein uraltes chinesisches Weisheitsbuch, das in China einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad aufweist wie bei uns die Bibel. Es ist dem Taoismus zuzuordnen und vertritt einen ähnlichen Standpunkt wie das bei uns besser bekannte Tao te king. Während aber das Tao te king speziell für Herrscher geschrieben wurde, wendet sich das Zhuangzi* direkt an uns einfache Menschen. Dadurch sind die darin aufgeschriebenen Weisheiten bedeutend alltagspraktischer und gut auf durchschnittliche Lebensumstände übertragbar. Das 20. Kapitel heißt „Der Baum auf dem Berge“ und beginnt mit folgender Geschichte:

Meister Zhuang wanderte in den Bergen, als ihm ein großer Baum mit dicken Ästen und üppigem Blattwerk auffiel. Ein Holzfäller blieb neben ihm stehen, machte aber keine Anstalten, den Baum zu fällen. Als Meister Zhuang ihn nach dem Grund fragte, sagte er: „Man kann ihn zu nichts benutzen.“
„Dieser Baum konnte die ihm vom Himmel zugedachte Lebensspanne vollenden, eben weil er wertlos ist“, sagte Meister Zhuang. […] Der gerade gewachsene Baum wird als Erster gefällt; der Brunnen mit süßem Wasser wird als erster leer geschöpft.

So kommst du als hochsensibler Mensch in deine innere Freiheit

Diese Geschichte zeigt, dass Nutzlosigkeit durchaus einen gewissen Nutzen haben kann. Und wer beurteilt denn, was ein „wertvoller“ und was ein „nutzloser“ Baum ist? Der Holzfäller! Bäume für sich genommen sind einfach nur Bäume, egal ob krumm oder gerade. Niemand fragt danach, sie sind einfach da und leben ihr Leben. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, sich von seinem inneren Richter zu befreien (wie das geht, kannst Du in meinem Artikel Mehr Leichtigkeit durch weniger Urteilen nachlesen). Die Erkenntnis, dass es nur den Holzfäller interessiert, ob man gerade gewachsen ist oder nicht, führt zu einer weiteren Erleichterung, nämlich, dass es nicht nötig ist, den schönen Schein aufrecht zu erhalten. Im Zhuangzi* wird das, ebenfalls im 20. Kapitel, folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

Passt du dich den Dingen an, dann wirst du dich ihnen nicht entfremden; lässt du den Gefühlen freien Lauf, dann gibt es keinen inneren Konflikt. Wo es keine Entfremdung und keinen inneren Konflikt gibt, da bist du nicht mehr davon abhängig, den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Bist du nicht mehr von der Aufrechterhaltung des schönen Scheins abhängig, dann bist du sicher auch von anderen Dingen nicht mehr abhängig.

Auf unsere Situation übertragen heißt das: Wenn man sich seiner Hochsensibilität anpasst, indem man z.B. Rücksicht darauf nimmt, was man beruflich leisten kann, wird man sich von ihr nicht entfremden. Dadurch kann man seinen Gefühlen freien Lauf lassen, so dass es nicht zu inneren Konflikten kommt. Man hat die Freiheit und die Freude, das zu leben, was man ist, und ist nicht auf Äußerlichkeiten angewiesen (an denen man sich durchaus freuen kann und darf, nur dass man eben nicht mehr davon abhängt).

Meinen Freund haben diese Gedanken ein wenig trösten können. Ich hoffe, Dich auch?

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9 Gedanken zu „Vom Nutzen der Nutzlosigkeit – hochsensibel im Beruf“

  1. Vielen herzlichen Dank für die informativen Blog-Artikel! Hier bekommt mein Verstand das nötige „Futter“, um zu begreifen, dass mich meine Intuition jetzt, nach viel Fremdbestimmung in Elternhaus und Schule, doch gar nicht so sehr getäuscht hat, wie ich zeitweise dachte. Auch wenn ich von einem offenen Umgang mit meiner Eigenschaft HSP noch weit entfernt bin und die „Vorteile“ noch ein bisschen vergraben sind.

    Antworten
    • Hallo Bianca,

      vielen Dank für Dein Feedback! Ich wünsche Dir, dass Dein Draht zu Deiner Intuition sich weiter verbessert, je mehr Du Dich mit dem Thema Hochsensibilität beschäftigst.

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  2. Liebe Anne-Barbara, ich bin neu auf deinen Seiten und fange gerade an, mich etwas ernsthafter mit meiner Hochsensibliltät zu beschäftigen. Daher bin ich froh, hier so viel über das Thema lesen zu können.
    In der Vergangenheit fragte ich mich oft, warum ich mich inmitten vieler Menschen unwohl fühle, unwohl, wo Menschen laut durcheinander reden, viel Energie auf mich einwirkt – von vielen oder von einer Person – und ich am Ende des Arbeitstages oder des „geselligen Beisammenseins“ oder nach dem Familienbesuch total erschöpft bin. Ich nahm an, dass ich einfach kein so geselliger Mensch bin und lieber meine Ruhe habe, anstatt abends noch zu telefonieren oder mich ins Getümmel zu stürzen. Diese Zeiten gab es zu genüge zw. 17 und 25, sind jetzt doch vorbei.
    Jetzt scheine ich eine Erklärung zu haben und allein diese Erkenntnis kostet mich Energie. Was nun? Was heißt es nun für mich zu tun, um gesund mit dieser Eigenschaft zu leben?
    Ich habe meinen Arbeitsvertrag gerade auf eine 4-Tage-Woche gekürzt, da ich den tägl. Trubel – ich möchte lieber sagen „Wahnsinn“ – im Büro (Sekretariat, viele Anrufe, viele Kollegen kommen, Umbauarbeiten, es ist laut und riecht unangenehm…schrecklich) einfach nicht mehr an 5 Tagen ertrage. Ich habe keine Reserven mehr und auch nicht mehr die notwendige Elastizität (ich nenn das mal so). Nicht, dass ich es mir finanziell leisten könnte, tue ich es jedoch nicht, kann ich mich irgendwann einliefern lassen. Obendrein pflege ich seit 1 Jahr meinen Vater (Alzh. Demenz). Die Pflege empfinde ich seit einigen Wochen als überfordernd aufgrund immer wieder aufkommender periphärer Schwierigkeiten.
    Im Moment scheine ich nicht genug Zeit und Energie zu haben und empfinde es fast als aussichtslos, mich in das Thema HSP einzuarbeiten.
    Wie finde ich trotz der momentanen Erschöpfung, die Kraft?
    Wie hast du das geschafft?

    Antworten
    • Liebe Gabriele,

      freut mich, dass Du hier gelandet bist und danke für Dein nettes Feedback!

      Nach der Schilderung Deiner Lage denke ich, dass fast jeder zusammenklappen würde, wenn man zu 80% berufstätig ist und noch einen demenzkranken Angehörigen pflegt. Dazu muss man gar nicht hochsensibel sein. Für Dich als Hochsensible ist das absolut zu viel! Auf lange Sicht kannst Du das in dieser Form nicht durchhalten.

      Ich möchte Dich um folgendes bitten: Zunächst solltest Du Dir Freiraum für Dich freischaufeln. Es gibt da diverse Möglichkeiten, ihn z.B. in eine Tagesbetreuung zu geben, so dass Du wenigstens hin und wieder Zeit für Dich hast. Es ist auch möglich, Betreuung für zu Hause zu bekommen. Bitte informiere Dich bei seiner Krankenkasse, was da geht. Tatsache ist, dass man da viel mehr Rechte hat, als man gemeinhin denkt. Und wenn es mit Deinem Vater zu anstrengend wird, dann muss er in einem Heim untergebracht werden. Dieser Punkt kommt bei allen irgendwann einmal, und man sollte damit nicht warten, bis es für einen selbst zu spät ist. Niemandem ist damit gedient, wenn Du einen Burnout bekommst und für Monate in eine Klinik musst. Von daher ist rechtzeitiges Handeln geboten.

      Die Zeit, die Du Dir freigeschaufelt hast, verwendest Du bitte dafür, Dein Leben auf Deine hochsensible Veranlagung hin umzustellen. Wir alle haben lange Jahre gelebt, ohne darüber zu wissen, und haben uns dabei falsche Vorstellungen und falsche Lebensweisen angewöhnt. Ein grundsätzliches „Care-Paket“ in dieser Hinsicht bietet mein gratis Online-Kurs:

      Gratis Online-Kurs für Hochsensible

      Dieser kostet nicht allzu viel Zeit, aber ein wenig Zeit und Kraft, um die Maßnahmen auch umzusetzen, musst Du schon einkalkulieren. Ich hoffe, ich konnte Dir jetzt erst einmal weiterhelfen. Wenn Du noch Fragen hast, immer gern! :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  3. Liebe Anne-Barbara,
    vielen lieben Dank für deine Antwort.
    Es ist in der Tat so, dass mich die Umstände auf der Arbeit und die Pflege meines Vaters sehr erschöpfen. So umfangreich, wie du dir die Pflege vorstellst, ist es aber nicht. Allerdings gibt es viel zu regeln, mein Vater ist nicht so einsichtig, dass bestimmte Dinge jetzt notwendig wären, es gibt leider keine Vorsorgevollmacht, was das Ganze noch schwieriger macht, mein Bruder sabotiert die Pflege auch durch Drohungen mir und der Lebensgefährtin meines Vaters gegenüber…und und und
    Gestern versuchte ich wieder, meinen Vater zu motivieren, in die Kurzzeitpflege zu gehen, da seine LG 1 Woche ins KKH muss. Leider hat es nicht geklappt. Er hat es klar und deutlich gesagt. Ich weiß, dass mein Vater auch ein Recht auf Risiko hat. Ich muss es akzeptieren, dass er allein zuhause alleine bleiben will. Zwar habe ich für diese Woche tagsüber 3x Pflegedienst organisiert aber wenn zwischenzeitlich was passieren sollte… Mein Vater war politisch sehr engagiert und hat auch viel bewegt, er war BR-Vorsitzender und hatte immer einen klaren Weg vor Augen…wenn er z.B. seine Vorsorge hätte regeln wollen, hätte er es getan. Ich muss einfach akzeptieren, dass er dies nicht getan hat. Dann werden alle Angelegenheiten irgendwann halt von einem externen Betreuer teuer geregelt werden. Nur mein Bruder hat Angst um das Erbe – nicht ich.
    Für manche mag meine „Gelassenheit“ herzlos klingen.
    Mein Plan B: Der Pflegedienst wird eine Betreuungsregelung in die Wege leiten, weil er die Pflege „in Not“ sieht. Dann bin ich zumindest aus der Schusslinie meines Bruders…(m)ein Lebensthema, das irgendwann angefangen hat, als ich noch ganz klein war :-(

    Einsicht und Verständnis für meine Situation habe ich bereits. -> Heute ist mein 1. freier Arbeitsmontag. :-) Und montags gehe ich ab heute zur Traumatherapie.

    Den Onlinekurs habe ich schon erspäht. Der klingt auch gut. Ich weiß, dass ich immer viel möchte. Scheint in der Theorie auch total einfach und machbar. Leider kalkuliere ich bei meinem Enthusiasmus nicht ein, dass was zu erreichen auch bedeutet, Energie zu investieren. Und dann kommt das Leben dazwischen…

    Naja, den ersten Schritt für „mehr Zeit für Gabriele“ habe ich getan. Das gute Gefühl dazu lässt bestimmt nicht allzu lange auf sich warten.
    Lieben Gruß und einen guten Start in die Woche wünscht dir
    Gabriele

    Antworten
    • Liebe Gabriele,

      das heißt, nicht die Pflege an sich ist das Schwierige, sondern die familiären Umstände. Es kommt oft vor, dass so eine Krankheit noch einmal sämtliche Familienthemen der vergangenen Jahrzehnte an die Oberfläche spült, und das kann sehr anstrengend werden. Ich finde es gut, dass Du eine Traumatherapie machst, denn da hast Du eine Begleitung für diese Schwierigkeiten. Und man kann das ja durchaus auch als Chance begreifen – wenn das alles jetzt noch einmal kommt, und man das durchsteht, hat das etwas sehr klärendes und reinigendes.

      Ich finde es auch total gut, dass Du die Entscheidungen Deines Vaters respektierst. Er hat sein Leben so gelebt, wie er das für richtig gehalten hat, und muss die Konsequenzen jetzt auch tragen. Du kannst Dein Bestmögliches für ihn tun, aber seine Verantwortung bei ihm lassen. Das entlastet Dich und nimmt viel Stress heraus. Ich finde diese Art von Gelassenheit nicht herzlos, sondern als ein Zeichen von Respekt und einfach nur realistisch. Denn bei aller Liebe muss man ja dabei nicht hirnlos werden. ;-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

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