Entspannungstechniken sind für hochsensible Menschen so wichtig, weil wir aufgrund unserer erniedrigten Reizschwelle viel mehr Informationen aufnehmen als das beim Bevölkerungsdurchschnitt der Fall ist. Das bedeutet für unser Gehirn Stress – denn es muss all diese Informationen verarbeiten. Stress abzubauen bedeutet für Hochsensible das A und O des Wohlbefindens. Heute möchte ich meine Lieblings-Entspannung vorstellen – Open Focus. Diese Methode stammt aus dem Biofeedback. Der Neurowissenschaftler Les Fehmi hat mittels des Messens der Gehirnströme herausgefunden, wie man schnellst- und bestmöglich entspannt. Seine Methode ist aufgrund seiner wissenschaftlichen Forschung besonders gehirngerecht und weltanschaulich vollkommen frei. Er hat herausgefunden, dass wir in unserer westlichen Kultur beinahe ausschließlich auf eine Form der Wahrnehmung konditioniert werden, die er „narrow focus“ nennt.
Narrow Focus – der enge Blickwinkel
Les Fehmi schreibt in seinem Buch The Open Focus Brain. Harnessing the Power of Attention to Heal Body and Mind* (hier eine deutsche Übersetzung inkl. CDs mit Übungen*), dass an einem engen Blickwinkel grundsätzlich gar nichts falsch ist. In diesem Wahrnehmungsmodus sind wir extrem auf eine Sache konzentriert, bündeln unsere gesamte Kraft und Aufmerksamkeit darauf und können dadurch sehr viel erreichen. Der Nachteil ist nur, dass wir nicht dafür gemacht sind, diesen engen Blickwinkel für längere Zeit aufrechtzuerhalten. Er ist für bestimmte Notfallsituationen gemacht, in denen wir richtig Gas geben müssen, um zu überleben. Doch spätestens während der Schulzeit werden wir darauf getrimmt, diesen Zustand kontinuierlich aufrechtzuerhalten: Konzentriere dich, hör auf mit der Tagträumerei – das sind die Sätze, die in diesem Zusammenhang fallen. Das ist auf die Dauer jedoch viel zu anstrengend und für die meisten Tätigkeiten auch gar nicht nötig.
Wie Les Fehmi es beschreibt, hat der narrow focus hat noch einen weiteren Nachteil: Da er als Modus zur Bewältigung von Stresssituationen gemacht ist, denkt unser Gehirn, wenn wir ihn einschalten, wir wären in einer solchen gefährlichen Lage. Das heißt, der Zustand an sich erzeugt schon Stress, selbst wenn von außen gar nichts Anstrengendes auf uns zu kommt. Allein dass man sich im engen Blickwinkel befindet, kann also auf die Dauer schon Stress bis hin zu Panikattacken erzeugen.
Open Focus – der weite Blickwinkel
Unser Normalzustand im Alltag sollte also der weite Blickwinkel sein. In diesem sind wir nicht fokussiert, sondern eher in einer Wahrnehmung, die das gesamte Spektrum um uns herum erfasst. Das Gehirn erhält in diesem Modus eine Pause und die Ruhe, die es benötigt, um sich zu regenerieren. Wir alle haben wahrscheinlich schon Erfahrungen mit diesem Modus gemacht: Z.B. wenn wir im Urlaub sind, sich bei einem Strandspaziergang der Blick weitet und wir auf einmal richtig abschalten können.
Les Fehmi bringt als Beispiel ein Löwenrudel, das Mittagsruhe hält. Die Tiere liegen wach, aber entspannt im Schatten und nehmen alles um sich herum ohne Mühe wahr. Da kommt eine Herde Gazellen vorbei. Die Löwen bleiben zunächst in ihrem Ruhemodus, weil sie von den Gazellen bereits gesichtet wurden und deshalb nicht die geringste Chance hätten, eine von ihnen zu erwischen.
Plötzlich bemerken die Löwen jedoch, dass eine der Gazellen verletzt ist. Ihre Muskeln spannen sich an, ihr Blick fokussiert sich auf dieses Tier, sie nehmen die Verfolgung dieser Gazelle auf. Nach erfolgreicher Jagd wechseln sie von ihrem engen Blickwinkel wieder in den open focus und erholen sich. Und genauso sollte das bei uns Menschen auch sein. Wir müssen also wieder lernen, verschiedene Varianten der Aufmerksamkeit zu praktizieren.
Die Erfahrung des Raums – bildloses Imaginieren
Les Fehmi hat unzählige Experimente gemacht, wie man das Gehirn in den Alpha-Zustand bringen kann, in dem es bei wachem Zustand optimal entspannt. Als er schon beinahe aufgeben wollte, stellte er plötzlich durch Zufall fest, dass es eine ganz einfache Möglichkeit gibt, diesen Zustand zu erreichen: Man konzentriert sich auf den Raum zwischen sich und einem Gegenstand in der Außenwelt. Da der Raum schlichtweg nichts ist, heißt das, sich auf nichts zu konzentrieren. Dadurch bekommt das Gehirn eine Pause, unsere Aufmerksamkeit und unsere Wahrnehmung verändern sich.
So geht’s – die Open Focus Grundübung
1. Setze Dich bequem hin und schaue auf eine gegenüberliegende Wand.
2. Nun lenke Deine Aufmerksamkeit auf den Raum zwischen Dir und der Wand.
3. Sobald Dir das gelingt, nehme den Sektor rechts von Dir dazu, indem Du Dich auf den Raum zwischen Deiner rechten Schulter und der nächstliegenden Wand konzentrierst.
5. Ist Dir auch das gelungen, nehme den Sektor links von Dir dazu, indem Du Dich auf den Raum zwischen Deiner linken Schulter und der nächstliegenden Wand konzentrierst.
4. Zuletzt nehme den Sektor hinter Dir dazu, indem Du Dich auf den Raum zwischen Deinem Rücken und der Wand hinter Dir konzentrierst. Du hast nun Deine gesamte Aufmerksamkeit auf den Dich umgebenden Raum gerichtet. Halte diesen Zustand für fünf bis zehn Minuten.
Nachdem man das einige Tage lang zweimal täglich geübt hat, kann man versuchen, diesen offenen Blickwinkel auch auf Alltagssituationen zu übertragen. Wenn man Bildschirmarbeit verrichtet, kann man sich z.B. auf den Abstand zwischen sich und dem Bildschirm konzentrieren, beim Lesen auf den Raum zwischen den Augen und dem Buch, beim Kochen auf den Abstand zwischen dem zu schnippelnden Gemüse und einem selbst, etc. Wenn man diesen offeneren Blickwinkel auf so viele Alltagstätigkeiten wie möglich anwendet, kann man sich quasi am laufenden Band, immer und überall, regenerieren!
Kostenlose Open Focus-Übungen im Netz
Auf der Webseite von Les Fehmi gibt es zwei kostenlose Audio-Übungen als Download zum Erreichen des Open Focus, die etwas ausführlicher sind als die von mir beschriebene Grundübung aus seinem Buch. Diese sind allerdings in englischer Sprache:
Open Focus – Les Fehmi – hier klicken
Diese Übungen sind für Anfänger geeignet. Wenn man sich damit vertraut gemacht hat und vielleicht etwas Abwechslung möchte, kann man sich weitere Übungen käuflich erwerben.
Warum ich von Open Focus begeistert bin
Ich denke, dass diese Methode vielleicht sogar die beste überhaupt für hochsensible Menschen ist. Nicht nur wegen des enormen Vorteils, dass man sie praktisch jederzeit praktizieren kann, wenn einem danach ist und es sich anbietet, sondern weil auch gerade die Grundübung besondere Vorteile mit sich bringt. Wenn wir nämlich auf Dinge oder Menschen in unserer Umgebung fixiert sind, verlieren wir uns selbst und vergessen, wie viel Raum eigentlich zwischen uns und diesen äußeren Gegebenheiten liegt.
Für mich ist die Grundübung deshalb immer wieder eine tolle Möglichkeit, um Abstand zur Außenwelt zu gewinnen und mich selbst besser zu spüren. Man findet sich in einer Wolke von Raum, die einen umgibt. Dadurch entsteht ein Bewusstsein dafür, wo ich mich befinde und wie weit weg ich tatsächlich von anderen und anderem bin.
Gleichzeitig kann Open Focus auch wieder eine Erfahrung der Entgrenzung sein, wie bei der Übung „General Open Focus“ von Les Fehmi, die einen in einen Zustand des Durchflutet-Seins von Raum führt. Das ist einfach genial.
Erlernbarkeit: gut, für die Anwendung auf Alltagssituationen braucht man etwas Übung
Entspannungstiefe: sehr gut
Ausübbarkeit: immer und überall!
Zeitaufwand: Während der Einübung etwas höher, aber dann optimal in den Alltag zu integrieren
Weitere Entspannungstechniken findest Du hier
Les Fehmi, The Open Focus Brain. Harnessing the Power of Attention to Heal Body and Mind*Clipart von Anonymous auf freesvg.org
Clipart von rg1024 auf Openclipart.com
Zurück zu hochsensibel sein
Sehr interessant. Ich kenne diese Methode noch nicht und werde sie gerne ausprobieren.
Hallo Muschelfinderin,
prima, ich würde mich freuen, wenn Du über Deine Erfahrungen damit schreiben würdest!
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara
Hallo Anna,
vielen Dank für den Artikel. Arbeite mich gerade durch die englische Version des Buches von Les Fehmi. Allerdings ist es ohne Vorkenntnisse in einer anderen Sprache echt schwer zu verstehen was er meint. Mit deinem Artikel hat es jetzt Klick gemacht.
Leider funktioniert der zweite Link im Artikel nicht mehr.
herzliche Grüße
Sylvia
Liebe Sylvia,
danke dir für dein nettes Feedback! Freut mich, dass es jetzt bei Dir Klick gemacht hat. Danke Dir für den Hinweis, dass der Link nicht mehr geht. Ich habe ihn gelöscht, weil es diese Übung nicht mehr online gibt.
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara
Hallo Frau Kern,
vor einigen Monaten durfte ich auf Ihren Artikel zum Open Focus treffen. Nie zuvor hatte ich von dieser Methode gehört – und ich kenne viele Methoden.
Ich möchte Ihnen für den Artikel ein herzliches Dankeschön sagen. Mittlerweile habe ich mir beide Bücher und auch die zugehörigen Hörbucher von Les Fehmi gekauft. Diese sind meine ständigen Begleiter im Alltag geworden und waren schon oft das einzige, was mir geholfen hat.
Ich bin so dankbar, dass ich diese Methode durch Sie kennenlernen durfte!
Liebe Grüße!
Liebe Maja,
vielen Dank für Ihr nettes Feedback und Ihren Erfolgsbericht, was mich beides sehr freut! Ja, diese Methode ist erstaunlich wenig bekannt dafür, wie hilfreich sie ist. Ich möchte sie auch nicht mehr missen.
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara
Hallo,
Gibt es auch Online-Übungen kostenlos und auf deutsch? Ich spreche kaum englisch, so dass mir die verlinkten Übungen nichts bringen, weil ich mich zu sehr darauf konzentrieren muss, überhaupt zu verstehen, was gesprochen wird. Ich würde Open Focus aber gern mal ausprobieren, ohne mir sofort ein teures Buch kaufen zu müssen.
Viele Grüe!
Lieber Gerry,
versuche es einmal auf YouTube, dort gibt es die ein oder andere Übung auf Deutsch. Allerdings kann ich dir nicht garantieren, dass das wirklich im Sinne Les Fehmis ist. Aber egal, wenn du dort etwas findest, was dir guttut, ist das prima! Gib dort einfach „open focus deutsch“ in die Suche ein.
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara