Sind Hochsensible die besseren Menschen?

Aufgrund unserer Feinfühligkeit empfinden wir hochsensible Menschen die Welt oft als zu laut, zu bunt und zu hart. Manchmal kommt es uns so vor, als sei die Welt „schlecht“, weil sie uns gegenwärtig nicht gerade ein Umfeld bietet, das für unsere Bedürfnisse geeignet wäre. Der Umkehrschluss ist dann schnell gezogen: Wenn die Welt „schlecht“ ist, heißt das ja automatisch, dass wir Hochsensible „gut“ sind. Doch ist das wirklich so? Tatsache ist, dass wir als hochsensible Menschen in zahlreichen Alltagssituationen einem Zuviel an Reizen ausgesetzt sind. Aus Sicht normalveranlagter Menschen reagieren wir dann überempfindlich oder gar hysterisch, während wir in diesen Fällen dazu neigen, uns von Bosheit und Rücksichtslosigkeit umgeben zu fühlen. Jeder steckt in seiner eigenen Haut, und es ist schwer, sich vorzustellen, wie jemand die Welt erlebt, der ganz anders veranlagt ist. Das Problem bei der Sache ist, dass man die Reaktionen anderer vor dem Hintergrund des eigenen Seins interpretiert.

Typische Missverständnisse zwischen Hochsensiblen und der Bevölkerungsmehrheit

Ein Hochsensibler denkt: „Wenn ich so reagieren würde, wie es der andere gerade tut, würde ich das nur tun, wenn ich nicht bereit wäre, Rücksicht auf ihn zu nehmen.“ Der Normalveranlagte denkt: „Ich weiß gar nicht, was dieser Mensch hat. Mich stört an dieser Situation gar nichts, also kann es da auch nichts Störendes geben. Dieser Mensch muss andere Gründe für sein Verhalten haben.“

Beide irren sich. Der Normalveranlagte verhält sich nicht unbedingt rücksichtslos, er ist nur verständnislos, weil er aufgrund seines Wahrnehmungsspektrums gar nicht verstehen kann, was hier störend sein soll. Würde er das verstehen, wäre er vielleicht durchaus bereit, Rücksicht zu nehmen. Ein hochsensibler Mensch, der gerade den intensiven Eindruck einer sehr störenden Sache hat, kann sich aufgrund seiner Konstitution wiederum nicht vorstellen, dass das Gegenüber das tatsächlich nicht merkt, und denkt, der andere würde die Sache böswillig leugnen. Wenn einem diese Phänomene nicht bewusst sind, entstehen auf diese Weise leicht Missverständnisse mit unangenehmen Konsequenzen und einem hohen Konfliktpotenzial.

Beide empfinden sich dann wechselseitig als „Böse

Interessant ist, dass sich dabei beide Seiten aufgrund ihrer Fehlschlüsse wechselseitig als „böse“ empfinden. Wenn beispielsweise ein hochsensibler Mensch einen Konflikt anspricht, dessen Spannung er bereits deutlich spürt, der andere jedoch noch nicht, wird das von letzterem als Angriff aus heiterem Himmel empfunden. Der hochsensible Mensch hat hingegen den Eindruck, auf eine Mauer der Nichtachtung zu stoßen. In Wirklichkeit sind beide weder „gut“ noch „schlecht“, sondern in ihrer persönlichen Weise den Seins und den damit verbundenen Schwierigkeiten, über den Tellerrand zu sehen, gefangen.

Ob Hochsensible ihre Gaben konstruktiv oder destruktiv einsetzen, ist offen

Hochsensibilität bringt mit Sicherheit besondere Eigenschaften mit sich. Oft sind hochsensible Menschen gute Zuhörer und entwickeln eine große Empathie für ihr Gegenüber. Sie spüren, was anderen gut tun würde. Doch sie spüren auch, wo andere ihre Schwächen haben. Ich habe hochsensible Menschen erlebt, die diese Fähigkeit systematisch zum Selbstschutz einsetzen. Sie erkennen die Schwäche ihres Gegenübers und setzen dort gezielt einen Nadelstich, noch bevor der andere Gelegenheit hat, ihre eigene Verletzlichkeit zu bemerken. Auf diese Weise haben sie ihr gesamtes Umfeld im Griff, das vor ihnen zittert. Dieses Beispiel zeigt besonders deutlich, dass Hochsensibilität nur eine Weise des Seins ist, eine ergänzende Variante. Ob man die daraus resultierenden Eigenschaften konstruktiv oder destruktiv zum Einsatz bringt, ist vollkommen offen und dem freien Willen des Einzelnen unterworfen.

Letztlich scheint Hochsensibilität eine genetische Veranlagung zu sein, wie in meinem Artikel Hochsensibilitätsgen von der Migräneforschung gefunden? nachzulesen ist. Schmerzforscher haben ein Gen gefunden, durch das es im synaptischen Spalt zwischen Nervenzellen zu einer erhöhten Konzentration an Botenstoffen kommt. Dies bewirkt eine erhöhte Hirnaktivität: Reize werden intensiver empfunden und schneller weitergeleitet. (Das klingt gut, hat aber den Nachteil, dass die Energieversorgung durch die Mitochondrien, der kleinen Organe innerhalb der Zelle, die für deren Energieversorgung zuständig sind, hin und wieder zusammenbricht. Dann stockt unsere Informationsverarbeitung und wir leiden unter Reizüberflutung.)

Doch selbst die erhöhte Hirnaktivität hochsensibler Menschen sagt nichts über die Qualität dieser Aktivität aus. Tatsächlich besteht dadurch ein Potenzial, überdurchschnittliche Leistungen erbringen zu können. Es ist jedoch durchaus vorstellbar, dass jemand 60 Gedanken pro Minute hat, aber es handelt sich bei allem um Unsinn. Ein anderer denkt vielleicht nur einen Gedanken pro Minute, doch dieser Gedanke ist richtig gut und weiterführend. Auch in dieser Hinsicht bringt also Hochsensibilität nicht zwingend einen Vorteil mit sich.

Fazit: Hochsensible können genauso „gut“ oder „böse“ sein wie alle anderen auch

Wir Hochsensible sind keine „besseren“ Menschen, sondern können genauso „gut“ und „böse“ sein wie alle anderen auch. Was uns unterscheidet, ist nur ein anderes Portfolio an Fähigkeiten. In meinem Artikel Auf starke Weise zart sein verwende ich das Bild eines Werkzeugkoffers, und dass Hochsensible eher über Feinwerkzeug verfügen. Es ist aber so eine Sache mit dem Werkzeug: Mit dem Hammer kann man sowohl Sinnvolles tun, nämlich Nägel in die Wand hauen, als auch töten. Und das gilt für Nadelstiche gleichermaßen. Von daher kann ich uns Hochsensiblen leider keine Absolution erteilen und möchte Dich darum bitten, Deine natürliche Gabe bewusst und aktiv dazu zu verwenden, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, vielleicht sogar zu einem besseren Ort für Hochsensible.

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8 Gedanken zu „Sind Hochsensible die besseren Menschen?“

  1. Hallo Anne-Barbara Kern,
    ich habe Deine Seiten über Hochsensibilät gelesen und ich weiß von mir seit einigen Jahren, daß ich hochsensibel bin.
    Zu Deinem Artikel über „Sind Hochsensible die besseren Menschen“ fühle ich mich veranlasst Stellung zu nehmen.
    Meine Erfahrung lehrt mich, daß die Hochsensiblen einen äußerst wichtigen Teil mit Ihrer Veranlagung dazu beitragen können, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen und ja, würde sich die Masse der Unsensibleren an uns Hochsensiblen orientieren, würde das Zusammenleben auf unserer Erde anders bzw. ehrlicher und friedvoller aussehen (z. B. Massentierhaltung, Jobs in Großraumbüros, völlig überaltetes Schulsystem und und und..)
    Viele Grüße
    Irmgard Maria Barbara Boritzki

    Antworten
    • Liebe Irmgard,

      vielen Dank für Deinen Kommentar! Ich denke auch, dass Hochsensible unbedingt ihr Potenzial entfalten und in die Gesellschaft einbringen sollten, ganz besonders, was die von Dir angesprochenen Bereiche betrifft. Das ist mein Antrieb und das Ziel meiner Arbeit als Bloggerin und Coach.

      Ich sehe Hochsensible nur nicht in einer Opferrolle; es gibt viele, die, vielleicht ohne es zu merken und nur zum Selbstschutz, eben auch zu Tätern werden. Deswegen meine ich, dass man sich auf seiner hochsensiblen Veranlagung nicht ausruhen, sondern ständig bewusst dafür sorgen sollte, dass sich diese auch wirklich zum Guten hin auswirkt.

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  2. Hallo Anne-Barbara,

    eine tolle Seite mit sehr spannenden Artikeln. Habe mich gerade ein wenig durch die Beiträge geklickt und dabei viele Situationen wieder erkannt. Meine Schwester ist hochsensibel und das kann u.a. bei Treffen mit Freunden oder der Familie zu Spannungen führen, weil oft ein Nicht-Nachvollziehens der Situation des jeweils anderen da ist. Den Angriff aus scheinbar heiterem Himmel hab ich schon öfters erlebt und auch wenn alle Beteiligten um die Hintergründe wissen macht es den Umgang miteinander nicht einfacher.

    Vielen Dank für die offenen Worte. VG Katja

    Antworten
    • Hallo Katja,

      vielen Dank für Dein nettes Feedback, das mich sehr freut!

      Der Umgang zwischen Hochsensiblen und in Bezug auf Sensibilität normal Veranlagten kann manchmal schwierig werden, weil jeder von sich ausgeht und nicht versteht, warum der andere so handelt, wie er eben handelt. Nur weil jemand hochsensibel ist, muss er jedoch noch lange nicht „schwierig“ sein. Ganz im Gegenteil, viele Hochsensible sind besonders einfühlsam und werden dafür sehr geschätzt. Wenn Euch der Umgang mit Deiner Schwester so schwer fällt, ist mein Bauchgefühl, dass da noch etwas anderes abläuft…

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  3. Hi Anne-Barbara,

    ich habe lange Jahre meine Umgebung mit den von Dir sogenannten „Nadelstichen“ in Angst und Schrecken versetzt.

    Erst als ich entdeckte, daß ich hochsensibel bin, und begann, darüber zu lesen, habe ich die Sache mit der Überreizung, dem Abgrenzungsbedürfnis und dem Verlangen, mich zu schützen, verstanden. Da ist mir gleich nochmal eine ganze Bergkette vom Herzen gefallen, aber echt, denn mein Knurren und Geifern hat natürlich in meinen Gegenübern ebenfalls aggressives Verhalten hervorgerufen und meinen Umgang mit fast allen Leuten extrem anstrengend gemacht.

    Seit ich das weiß (Hallelujah again!), beobachte ich in kritischen, d.h. potentiell überreizenden Situationen, mich und meine Umwelt erstmal: sind heute wirklich nervige Leute unterwegs (und fühlen sich Normalsensible ebenfalls von denen genervt?) oder bin das nur ich, die sich mal zurückziehen und durchatmen muß?

    Und dann – noch so ein Highlight der letzten Monate – diese klasse Erfahrung: wenn ich den Leuten einfach sage, daß ich jetzt mal alleinsein muß… dann akzeptieren sie das!

    Mein Sozialverhalten hat sich dadurch enorm verbessert: inzwischen bin ich geradezu beliebt :-)

    Liebe Grüße & danke für Dein vielseitiges und erhellendes Beleuchten des Themas Hochsensibilität,

    Susie

    Antworten
    • Liebe Susie,

      vielen Dank für Deinen authentischen Bericht, aus dem andere eine Menge lernen können! Wow, da warst Du aber ehrlich mit Dir und hast eine ganz tolle Entwicklung hingelegt. Das freut mich sehr! :-D Deine Geschichte zeigt auch wieder, was wir alles erreichen können, wenn wir die Verantwortung nur selbst in die Hand nehmen. Mach‘ weiter so…

      Danke Dir auch für Dein nettes Feedback! :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  4. Hallo, insgesamt danke für diese tolle Seite! Ich, nicht HSP, habe einen Exmann, vermutlich HSP + ???, und eine Tochter, auch HSP.

    Selbst bei ihr kann man schon lange diese Nadelstiche sehen, dieses unangemessene (aus Normalosicht) Überreagieren auf z.B. freundlich gemeinte Frozzeleien. Auch sehe ich oft so eine Überempfindlichkeit für die eigene Person, aber wenig Erkenntnisse, dass man selbst bei aller Empathie andere auch verletzt. Also, Empathie nur für Personen, die erkennbar schwächer sind, aber nicht für das normale Gegenüber, das dann oft als Übermächtig erlebt wird. So stellt es sich mir zumindest dar.

    Ich finde solche Erklärungen wie ich sie hier finde immer wahnsinnig hilfreich, erlebe aber auch, dass HSP dieses „Eingeboxt“ und in Kategorien gedacht zu werden, total schrecklich und nicht hilfreich finden. Und dann lieber das Gemeinsame betonen, was ich als Normalo aber eben oft nicht so sehe, sondern oft irritiert bin in der hier beschriebenen Weise (sich wechselseitig als böse erleben). Und ich halte mich auch nicht für einen Holzklotz, aber für Hochsensible scheine ich es zu sein.

    Vielen Dank für die tollen Erkenntnisse, die ich hier gewinnen darf!

    Antworten
    • Hallo Sabine,

      vielen Dank für dein nettes Feedback! Freut mich, dass du meine Seite als hilfreich empfindest und danke für das Teilen deiner Gedanken.

      Tut mir leid, dass die Kommunikation zwischen deiner Tochter und dir gerade gar nicht gut läuft. Dass sie wenig empathisch ist, ist untypisch für Hochsensible. Vielleicht handelt es sich auch um ein anderes Phänomen. Womöglich hilft dir dieser Blog-Artikel weiter:

      Hast du Asperger-Züge? Mache den Test!

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

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