Zu lieb sein macht böse

In letzter Zeit ist mir ein Muster öfters begegnet, das ich auch an mir selbst schon bemerkt habe, nämlich, dass man gerade, wenn man besonders lieb sein möchte, am Ende als böse dasteht und sich dann überhaupt nicht erklären kann, wie es nur dazu kommen konnte. Das ist ein Phänomen, das bei hochsensiblen Menschen häufig anzutreffen ist. Denn wir haben aufgrund unserer erniedrigten Reizschwelle eine besonders intensive Wahrnehmung der Stimmungen unserer Mitmenschen. Das ist immer dann schön, wenn uns positive Gefühle entgegengebracht werden. Und immer dann weniger schön, wenn es gilt, Spannungen auszuhalten. Darin sind wir hochsensiblen Menschen nämlich nicht besonders gut. Wir lieben es harmonisch. Und oft scheint es so, dass sich Harmonie am einfachsten herstellen lässt, wenn wir Reibungspunkte einfach ignorieren oder sie herunterschlucken. Meist denken wir dabei auch noch, wir würden uns besonders rücksichtsvoll verhalten, und meinen, anderen damit etwas Gutes zu tun. Doch dieser Schein trügt. Das Gegenteil ist der Fall: Wir geben unseren Mitmenschen kein authentisches Feedback und können Beziehungen dadurch sogar nachhaltig stören.

Der Harmoniekiller Nr. 1: Bedürfnisse übergehen

Menschen haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse, weil wir einfach alle individuell verschieden sind. Der eine mag es warm, der andere kühl, der eine hell, der andere gemütlich schummrig… Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Als hochsensibler Mensch hat man viele Bedürfnisse, die von denen des Bevölkerungsdurchschnitts abweichen. Wo Menschen gemeinsame Zeit miteinander verbringen, müssen sie sich stets über die Bedingungen einigen, unter denen sie dies tun. Und diese Einigung sollte so aussehen, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten so weit wie nur möglich berücksichtigt werden.

Werden die Bedürfnisse eines Einzelnen übergangen, wird dieser sich unwohl fühlen. Dieses Unwohlsein wird im Lauf der Zeit stärker, und seine Unzufriedenheit wird sich irgendwann entladen. Das ist eine unvermeidliche Tatsache! Und die schlechte Nachricht: Das gilt auch, wenn man freiwillig darauf verzichtet, seine Bedürfnisse kund zu tun.

Wenn wir also als hochsensible Menschen mit anderen interagieren und dabei darauf verzichten, für unsere Bedürfnisse einzustehen, sieht es für den Moment zwar so aus, als würde Harmonie herrschen. Wir können einer aufkommenden Spannung vorübergehend ausweichen. Doch der Schein trügt: Wir tun uns damit etwas an, und das staut sich auf. Irgendwann wird sich das Bahn brechen, wahrscheinlich im falschen Moment und zum falschen Anlass, weil wir immer mehr unter Dampf geraten und dann wahrscheinlich auch noch reizüberflutet sind. Die anderen Beteiligten wird das vollkommen unvorbereitet treffen, da sie ja nichts davon geahnt haben, dass wir uns in Wirklichkeit unwohl fühlen. Sie werden uns als „böse“ empfinden. Mehr dazu kann man in meinem Artikel Sind Hochsensible die besseren Menschen? nachlesen.

Ein klassisches Beispiel der „Zu lieb sein macht böse“-Falle

Hier ein Beispiel aus meinem Leben: Als meine Schwester, mit der ich damals zusammen wohnte, ihre Lehre machte, war sie oft sehr aufgewühlt, wenn sie nach Hause kam. Ich bemühte mich, dann immer für sie da zu sein. Daran war sie gewöhnt. Später, als sie schon längst mit ihrer Lehre fertig war, sich in ihrer Firma etabliert und einen guten Job hatte, änderte sich meine Lage. Ich habe damals studiert und nebenbei Geld mit Gesangsunterricht und Chorleitung verdient. Zu dieser Zeit wusste ich noch nichts von meiner Hochsensibilität, merkte aber, dass ich ab 18 h absolute Ruhe brauchte, wenn ich um 20 h eine Chorprobe halten sollte.

Nun kam meine Schwester damals stets gegen 18 h nach Hause und begann, mir alles mögliche zu erzählen. Mich nervte das, doch ich traute mich nicht, ihr das klar zu sagen. Stattdessen bemühte ich mich darum, ihr weiterhin zuzuhören, wie ich das früher immer getan hatte. Und irgendwann begann ich, ungeduldig und gereizt auf das zu reagieren, was sie beschäftigte. Damit habe ich sie verletzt und das ließ sich nicht ohne weiteres wieder einrenken.

Hätte ich hingegen ganz klar zu ihr gesagt: „Dienstags und donnerstags abends habe ich Chorproben, da bin ich zwei Stunden vorher nicht ansprechbar“ hätte ihr das sicher viel weniger weh getan. Vielleicht wäre sie ein wenig traurig und enttäuscht gewesen, aber ich hätte sie damit nicht persönlich gekränkt.

Solche und ähnliche Geschichten höre ich auch immer wieder in meinen Coachings. Durch das „Zu-lieb-sein-Wollen“ und das nicht Einstehen für die eigenen Bedürfnisse kommt es zu falschen Erwartungen unserer Mitmenschen, was uns irgendwann zum Platzen bringt, mit fatalen Folgen.

Für die eigenen Bedürfnisse einzutreten ist elementar wichtig

Es ist also wirklich wichtig, sich seine Bedürfnisse als hochsensibler Mensch bewusst zu machen und offen dafür einzutreten. Ein klares Wort zu Anfang bringt letztlich weniger Spannung als aufgestaute Frustration. Es ist ganz normal, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben und dass man sich zu Beginn einer wie auch immer gearteten gemeinsamen Unternehmung darüber einigen muss. Dass man hier klare Kante zeigt, ist wichtig, um langfristige und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen.

Doch dass das gerade hochsensiblen Menschen so schwer fällt, liegt nicht nur daran, dass wir nicht gut Spannungen aushalten können. Oft kommen uns auch unsere Bedürfnisse merkwürdig vor, weil sie von denen der anderen abweichen, so dass wir uns dafür schämen. Dann fällt es besonders schwer, darüber zu sprechen. Mir ging es damals auch so, dass ich mich dafür geschämt habe, so viel Ruhe zu benötigen. Ich konnte mich selbst mit diesem Bedürfnis nicht richtig akzeptieren, weil ich ja auch keine Erklärung dafür hatte. Meine Schwester kann den ganzen Tag Trubel ertragen, ich nicht. Also versuchte ich so zu tun, als sei ich wie sie. Ein solches Verhalten geht aber grundsätzlich nach hinten los.

Und wenn wir als hochsensible Menschen zu viele schlechte Erfahrungen in dieser Art gemacht haben, neigen wir durchaus dazu, uns ganz aus der Welt zurückzuziehen. Das ist schade, denn wir haben etwas Wertvolles beizusteuern. Von daher möchte ich alle, die sich in diesen Zeilen wieder finden, dazu ermutigen, ihre Bedürfnisse als ganz normal zu akzeptieren und jederzeit und an jedem Ort dafür einzustehen!

Es ist gar nicht nötig, sich dabei als hochsensibel zu outen, obwohl das durchaus Sinn macht, wie man in meinem Artikel Hochsensibel? Outen leicht gemacht! nachlesen kann. Man kann auch andere Formulierungen wählen, wie z.B. „Ich gehöre zu der Sorte Menschen, die ihre Leistung unter Druck nicht abrufen können. Deswegen benötige ich viel Freiraum, Ruhe, etc.“ Es gibt immer Möglichkeiten, wie man seine speziellen Bedürfnisse auf eine Weise kommunizieren kann, dass der andere einen versteht und nicht persönlich getroffen ist. Und solche Formulierungen zu finden, darin sind doch wir hochsensiblen Menschen richtig gut. Also nutze auch Du Deine Stärken, und gehe konstruktiv mit Dir und anderen um!

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Raffaello, Madonna sistina, Detail, Quelle: Wikimedia Commons

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6 Gedanken zu „Zu lieb sein macht böse“

  1. Liebe Anne,

    ich hatte gestern den Impuls Dir genau zu diesem Thema etwas zu schreiben…
    ich muß es aber noch sortieren und in Schriftform bringen. Kommentar folgt bald. Es grüßt das morphische Feld.

    Gruß
    Renate Anderweit

    Antworten
    • Liebe Renate,

      das klingt interessant. Ich freue mich schon darauf, mehr von Dir zu lesen!

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  2. Hallöchen,
    es tut mir einfach soo gut, auch wenn ich es oft schon hörte,mir meine Bedürfnisse zu erlauben.Ich finde mich super wieder und das tut gut.
    Ich bin auch so eine Vermeiderin u gelingt es mir wie letztens meinem Kollegen zu sagen,wie er auf mich wirkt u was ich brauche,entspannt sich die Situation u es wird richtig schön u natürlich harmonisch.Vielleicht brauche ich den Mut eher Stellung zu beziehen u zu sagen,wie ich es gerade erlebe u was ich brauche.Denn die große Überraschung für die Anderen kenne ich u das fühlt sich nicht gut an:so ein angestauter Damm,der dann durchbricht.Ups ist ja richtig viel gerworden.Danke, Anne-Barbara für Deine Impulse.
    Ich habe das Buch gelesen von Aron und bin beglückt zu wissen,das ich OK bin.Danke:))Meine Freundin Ingrid liest es gerade und ist begeistert.

    Antworten
    • Hallo Karin,

      vielen Dank für Deinen Bericht!

      Ja, diesen Mut sollte man aufbringen. Es lohnt sich, weil man dann schon zu einem früheren Zeitpunkt und viel ruhiger dazu in der Lage ist, sein Anliegen vorzubringen.

      Aber obwohl ich das selber weiß und predige, habe ich in den letzten Wochen bemerkt, dass ich es immer noch nicht genügend praktiziert habe. Das versuche ich nun zu ändern, und die Resonanz ist positiv! Meine Mitmenschen meinen, sie würden so viel besser verstehen, was ich von ihnen will… Es ist also ein ständiger Entwicklungsprozess. :-)

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

  3. Heute ist mein freier Tag und ich kann mich hier etwas länger aufhalten :-)
    Ich finde mich in dem Text zu 100% wieder.
    Eine Kollegin, die keinen eigenen Drucker im Büro hat und in mein Büro kommt, um ihre Ausdrucke zu holen, erzählt jedesmal, wenn sie die Tür öffnet, warum sie gerade druckt…“ich muss das wegschicken, weil…“, „stell dir vor, SAP hat mir diese Tabelle erstellt“, „unfassbar, ich muss das schon wieder ausdrucken“. Womöglich steckt bei mir mehr dahinter, warum sie mir das mitteilt. Aber wenn das 10x die Stunde passiert, überfordert mich das einfach. Ich sitze ja nicht am Schreibtisch und warte auf Unterhaltung – ich arbeite, ich muss mich konzentrieren und ich habe sehr viele positionsabhängige Unterbrechungen…leider.
    Ich formuliere dann Sätze wie „ich muss mich hier konzentrieren, Tina“, „ich kann dir gleich Aufmerksamkeit schenken“, sage „ahäm“ oder reagiere gar nicht sondern fange bewusst an, laut zu denken. Nichts hilft. Einmal fiel mir nichts Anderes ein, als „ich habe dafür jetzt wirklich keine Zeit“. Gleichzeitig kam Chef sein und bemerkte „Oh, dicke Luft“. Na toll. Wie stand ich da? Ich fühlte mich unverstanden und war die böse Kollegin.
    Bislang habe ich es noch nicht geschafft, in einer ruhigen Minute ihr zu erklären, wie störend das ist. Ich weiß, ich muss es tun, zumal wir bald zusammen in einem Büro sitzen werden…und ich sollte es ihr in einer unbelasteten Situation sagen…

    Antworten
    • Liebe Gabriele,

      es freut mich, dass Du Dich in diesem Text wiederfindest, und danke auch für Deinen Bericht, in dem Du ein so typisches Problem hochsensibler Menschen schilderst!

      Anscheinend ist Deine Kollegin eine Srechdenkerin, d.h. sie muss Dinge laut aussprechen, um ihre Gedanken zu ordnen. Das kann schon ganz schön nerven. Wichtig ist, dass Du immer sofort etwas sagst, wenn es Dich nervt. Ansonsten staut sich das nämlich an, kommt mit zu viel Energie rüber und Du stehst als die Böse da, weil Du zu lange lieb warst. ;-)

      Und bitte ganz klare Anweisungen geben: „Bitte sei ruhig, sonst kann ich mich nicht konzentrieren!“ Wenn Du um den heißen Brei redest, versteht sie nicht, was Du von ihr möchtest.

      Herzliche Grüße,
      Anne-Barbara

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