Hochsensible verfügen über eine erniedrigte Reizschwelle, was die Aufnahme von Information betrifft. Aufgrund dessen nehmen wir mehr Details auf, und auch unsere Verarbeitungstiefe ist deutlich höher als beim Bevölkerungsdurchschnitt. Diese Gabe ermöglicht uns ein nachhaltigeres Denken und ein vorausschauenderes Handeln. Der Nachteil ist, dass bei Hochsensiblen auch Verletzungen intensiver empfunden werden und länger nachhallen. In Bezug auf Sensibilität normal Veranlagte stehen dem oft mit Unverständnis gegenüber, weil sie nicht nachvollziehen können, was an der Sache für uns jetzt „so schlimm“ war. Es kann aber nicht die Lösung sein, Verletzungen einfach herunter zu schlucken, nur um in die Norm zu passen. Für hochsensible Menschen ist es wichtig, dass wir uns unserer Verletzlichkeit stellen und entsprechend Lösungen finden, wie wir damit umgehen.
Schritt 1: Die Verletzung heilen
Zunächst einmal ist es wichtig, die erlittene Verletzung anzuerkennen. Egal, ob man jetzt im Außen eine Bestätigung dafür findet, oder ob man sich selbst irgendwie „lächerlich“ vorkommt – jede noch so kleine Verletzung darf anerkannt und verarbeitet werden. Dies ist aus zwei Gründen wichtig:
Erstens landet jede offen gebliebene Verletzung in unserem Lebensrucksack, der mit der Zeit immer schwerer wird, so dass das Gehen immer mühsamer wird. Hochsensible leiden aufgrund ihrer erniedrigten Reizschwelle auch mehr unter solchen Altlasten, so dass wir gut daran tun, diese erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Zweitens geht es aber auch um Selbstbehauptung. Wenn man gerade tief getroffen ist, fällt es aus dieser Emotionalität heraus schwer, sich angemessen gegen Angreifer zu wehren. Deshalb ist es gut, wenn man sich zunächst um die eigene Verletzlichkeit kümmert, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen. In der Folge wird man sehr viel besser dazu in der Lage sein, sich entsprechend abzugrenzen.
Es gibt jede Menge Werkzeuge, wie man kleinere und größere seelische Verletzungen verarbeiten kann, und jeder Hochsensible sollte sich ein paar solcher Tools aneignen. Hier im Blog habe ich bereits einige Techniken beschrieben, z.B.:
Verletzungen auflösen mit EFT (Emotional Freedom Techniques)
Mit der EFT-Grundtechnik kann man kleine bis mittlere Verletzungen auflösen. In meinem Blog-Artikel EFT – emotionale Freiheit für Hochsensible erfährst du mehr über diese Technik. Außerdem zeige ich dir im dritten Teil meines Gratis Onlinekurses für Hochsensible in einem Video, wie es geht. Für größere Verletzungen eignet sich die Grundtechnik nicht, da dort komplexere Gefühlslagen herrschen. Es gibt aber fortgeschrittene EFT-Techniken, die auch da sehr effizient helfen. Diese erlernst du, wenn du in ein Coaching bei mir gehst.
Traumata mit Expressive Writing überwinden
Eine sehr vielversprechende Methode, auch mittlere bis größere Verletzungen aufzulösen, bietet das Expressive Writing, bei dem man vier Tage lang über ein bestimmtes Thema schreibt. Die genaue Schreibanweisung findest Du hier: Expressive Writing – in vier Tagen ein Trauma überwinden. Die Wirkung des Expressive Writing ist wissenschaftlich sehr gut belegt. Zu beachten ist allerdings die Ausflipp-Regel: Wenn du merkst, dass dich das expressive Schreiben zu sehr aufwühlt, wenn du über ein bestimmtes Thema schreibst, lasse es sein.
Kleinere Verletzungen schnell und leicht auflösen
Sehr gut geeignet für kleinere Dinge ist eine Technik, die ich in diesem Artikel beschreibe: Hochsensibel – wenn uns Dinge zu nah gehen. Dort arbeitet man mit den mentalen Repräsentationen einer Verletzung und verändert diese, so dass die Sache verarbeitet werden kann. Diese Technik ist auch sehr gut geeignet, wenn man unter einer bestimmten Person leidet – Mache ihr Bild in Deinem Kopf einfach klein, schiebe es weit weg, mache es schwarzweiß, helle es auf, so dass kaum noch etwas zu erkennen ist… So mancher Ex-Partner verliert auf diese Weise seinen Schrecken! ;-)
Schritt 2: Sich verletzlich zeigen – aber richtig!
Bei Menschen, denen man vertrauen kann, ist es ja vollkommen normal, sich verletzlich zu zeigen. Diese werden auch bereit sein, entsprechend Rücksicht zu nehmen oder sich für ein versehentliches Malheur zu entschuldigen. Ganz anders sieht es aus, wenn man von Gegnern oder Menschen, denen man misstraut, verletzt wurde. Da gibt es nämlich es ein großes Dilemma, an dem viele Hochsensible scheitern:
Die Auflösung des Verletzlichkeits-Dilemmas, an dem viele Hochsensible scheitern
Natürlich ist es ein strategischer Fehler, Gegnern die eigene Verletzlichkeit zu zeigen, da man diesen damit die eigenen wunden Punkte offen legt. Doch wenn jemand einem absichtlich weh getan hat, und er bemerkt keinen „Erfolg“, weil es einem gut gelingt, die eigene Verletzlichkeit zu verbergen, denkt der Gegner womöglich, er müsse härtere Geschütze auffahren. Das kann die Lage durchaus weiter verschärfen.
Sollte es sich um jemanden handeln, der nicht vertrauenswürdig ist, einen aber versehentlich verletzt hat, und man verbirgt dies vor ihm/ihr, setzt man auch keine Grenze. Das heißt, dass der/diejenige kein adäquates Feedback bekommt und auch nicht aus der Situation lernt. In beiden Fällen, ob Absicht oder nicht, kommt jemand, der einen Fehltritt begangen hat, am Ende ungeschoren davon.
Ein weiterer Nachteil des Verbergens von Veletzlichkeit besteht darin, dass auch das Umfeld nicht mitbekommt, wie es um einen steht, und sich deswegen nicht dazu veranlasst sieht, einzuschreiten. Die anderen denken dann, man würde das ja locker wegstecken, so dass man keine Hilfe benötigt.
Das Dilemma besteht also darin, dass man sich, wenn man seine Verletzlichkeit nach außen hin kommuniziert, eine Blöße gibt, während sich, wenn man dies unterlässt, die Lage jedoch auch drastisch verschlimmern kann: Denn Gegner fahren dann noch härtere Geschütze auf, während mögliche Unterstützer untätig bleiben.
Aus diesem Grund sollte man in einer solchen Situation auf alle Fälle handeln. Wichtig ist, die Verantwortung für die eigene Verletzlichkeit selbst auf sich zu nehmen und sich mit den o.g. Mitteln gut um sich zu kümmern, zumindest später, wenn die Situation überstanden ist. So ist es möglich, nicht aus der Verletzlichkeit heraus zu handeln, was sicher kontraproduktiv wäre.
Stattdessen sollte man sich ganz objektiv bewusst machen, was konkret schief gelaufen ist, dies offen ansprechen und klare Grenzen setzen. Nur so wird der Verursacher korrekt gespiegelt, und das Umfeld bekommt mit, dass hier etwas Verletzendes geschehen ist, so dass man die Chance auf Unterstützung bekommt.
Ein Beispiel
Du hast deinen neuen Lieblingsrolli an, in dem du richtig gut aussiehst, und eine missgünstige Person aus deinem Umfeld teilt dir mit, die Farbe würde dich blass machen.
- Möglichkeit: Du brichst in Tränen aus. Die Person hat die Genugtuung, einen Treffer gelandet zu haben, und wird süffisant grinsen, während dein Umfeld findet, dass du dich übertrieben aufführst.
- Möglichkeit: Du machst die Person dafür verantwortlich, dass sie dir weh getan hat, und verlangst eine Entschuldigung von ihr. Diese wird sie dir nicht geben, denn womöglich lag es ja voll in ihrer Absicht, dir weh zu tun. Sowohl bei dieser als auch bei der vorigen Möglichkeit wird die Person lernen, dass du hier einen wunden Punkt hast, an dem sie dich treffen kann. Dein Umfeld wird denken, dass du mit schuld daran bist, dass ihr aneinander geratet, und sich deshalb heraushalten.
- Möglichkeit: Du ignorierst die Äußerung der Person, oder lachst einfach darüber, obwohl es in dir rumort. Wenn die Person dir tatsächlich weh tun wollte, wird sie sich nun überlegen, wie sie dich doch noch treffen kann. Dein Umfeld hat die spitze Bemerkung vielleicht bemerkt, denkt aber, dir würde es gut gehen, so dass niemand dich unterstützt.
- Möglichkeit: Du erkennst an, dass diese Bemerkung verletzend für dich war. Im Idealfall wendest du sofort eine der o.g. Techniken an (besonders die dritte geht sehr schnell). Ansonsten weißt du, dass du dich später um dich kümmern wirst. Dir wird bewusst, dass diese Person eine Grenze bei dir übertreten hat. Du sagst dieser Person, dass dir diese Bemerkung missfallen hat, und dass sie dich zukünftig mit Respekt behandeln soll. Die Person gibt Widerworte, aber jemand Wohlmeinendes aus dem Umfeld, der die Sache mitbekommen hat, strahlt dich an und sagt, der Rolli würde dir wirklich ausgezeichnet stehen. (Das passiert natürlich nur, sollte da tatsächlich jemand Wohlmeinendes sein, aber wenn, gibst du dieser Person mit deinem Verhalten die Chance dazu, so zu handeln.)
Fazit: Stehe zu deiner Verletzlichkeit!
Für Hochsensible ist es sehr wichtig, zu der damit verbundenen Verletzlichkeit zu stehen. Nur so können wir uns angemessen um uns selbst kümmern. Dazu gibt es viele gute Werkzeuge, drei Beispiele sind EFT, Expressive Writing oder die Arbeit mit den Submodalitäten der eigenen Repräsentation.
Verletzungen sollten auf keinen Fall heruntergeschluckt, sondern angemessen kommuniziert werden. Eine Vertrauensperson wird immer Verständnis haben und bereit zur Rücksichtnahme sein. Gegnern gegenüber herrscht das Dilemma, dass es zwar ein strategischer Fehler ist, Verletzlichkeit zu zeigen, man die Lage aber durch das Verbergen verschlimmert. Denn Gegner kommen so ungestraft davon und meinen womöglich, schwerere Geschütze auffahren zu müssen, um einen doch noch zu treffen, während potenzielle Unterstützer nicht bemerken, wie es einem geht, und sich deswegen zurückhalten.
Dieses Dilemma löst man auf, indem man die Verantwortung für die eigene Verletzlichkeit selbst auf sich nimmt, indem man sich um sich kümmert. Dann schaut man darauf, was objektiv schief gelaufen ist und setzt eine Grenze. Auf diese Weise gelingt es, nicht aus der Verletzlichkeit heraus zu handeln, sondern Klarheit zu schaffen und dir die Unterstützung des Umfelds zu sichern. In meinem Blog-Artikel In drei Schritten zu mehr Abgrenzung bei Hochsensibilität kannst du deine Skills diesbezüglich weiter vertiefen.
Liebe Anne-Barbara,
dein heutiger Artikel spricht mich ganz besonders an, steht dieses Thema doch bei mir (leider) derzeit ganz weit oben. Ich fühle mich wirklich verstanden! :) Und auch ein bisschen besser gerüstet für entsprechende Situationen, denen ich mich häufig viel zu stark ausgeliefert fühle. Vielen lieben Dank!
Liebe Patricia,
besten Dank für Dein nettes Feedback! Ich freue mich sehr, wenn Du Dich nun besser gerüstet fühlst, und wünsche Dir, dass sich all diese Situationen von jetzt an gut lösen lassen.
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara
Hallo liebe Anne-Barbara,
nach langer Zeit habe ich wieder einen Beitrag von Dir intensiv gelesen, denn er betrifft mich sehr. Verletzungen aus Kindheit und Schule drücken noch stark auf den Schultern, wie mich schützen? Deine Ausführungen dazu sind voll aufschlussreich, ich werde es probieren. Die Hauptsache ist jedoch die Erkenntnis, ich muß es ansprechen und nicht wegstecken- das ist goldes wert.
Danke für Deine Tipps und diesen Beitrag.
Liebe Grüße
Kerstin
Liebe Kerstin,
vielen Dank für Dein nettes Feedback! Ich freue mich, dass Dir meine Gedanken weiter helfen und drücke Dir die Daumen, dass Du einen prima Neustart bezüglich Deiner Verletzlichkeit hinlegst.
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara
Liebe Anne-Barbara,
auch mich spricht dieser Artikel besonders an.
Weil es bei mir so oft darum geht, was ich empfinde/heraus höre, was andere nicht tun oder können.
Im Laufe des Jahres traf ich auf eine Frau, die die Ex meines Freundes ist.
Wir mögen uns gegenseitig nicht. Das lag für mich sofort klar.
Trotzdem kamen einige Aufeinandertreffen (kann man sich manchmal nicht aussuchen).
Sie sagte seinerzeit, wie nebenbei, despektierlich, bei einer Erzählung über eine andere, weibliche Person:“ Naja, sie ist halt blond!“
Ich bin selber blond, sie ist brünett.
Ich habe bemerkt, dass sie mich damit kränken wollte. Kein anderer hätte es bemerkt.
Hätte ich das zum Thema gemacht, hätten wieder eine Vielzahl der Anwesenden gesagt:
„Nun beziehe es doch nicht auf dich!“
Tue ich aber, weil es auf mich gemünzt war- im Endeffekt. Ich habe das gespürt.
Sie wollte mich damit kränken.
Helene
Liebe Helene,
freut mich, dass Dich dieser Artikel anspricht, und danke für Deine Geschichte! Ja, es sind wahre Meister und Meisterinnen der subtilen Kränkung unterwegs – sie schaffen es immer wieder, ihre Stiche so zu setzen, dass die Zielperson es sehr wohl merkt, die übrigen Anwesenden aber nicht. Tut mir leid, dass Dir das passiert ist! Vielleicht ein kleiner Trost: Dass sie so übel tickt, ist ihr Problem, mit Dir ist alles gut!
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara