So verschieden Hochsensible auch sein mögen – eines haben wir alle gemeinsam, nämlich unsere Anfälligkeit für Stress und, damit einhergehend, unser Bedürfnis nach Stressbewältigung. Das kommt daher, dass wir ein besonders aktives Gehirn haben, mehr Reize aufnehmen und diese tiefgehender verarbeiten als der Bevölkerungsdurchschnitt. Dadurch ist unsere Gehirnkapazität schneller ausgeschöpft, weil die „Festplatte“ schneller voll ist. Wenn dann weitere Reize hinzukommen, entsteht Stress, denn wir geraten in einen Zustand der Reizüberflutung. Dies geschieht bei jedem Menschen, wenn er mehr Reizen ausgesetzt wird als er verarbeiten kann. Der einzige Unterschied bei hochsensiblen Menschen ist, dass wir früher an diesen Punkt kommen. Mein Lieblingssatz der Hochsensibilitätsforscherin Elaine N. Aron lautet an dieser Stelle: „Jeder Mensch fühlt sich am wohlsten, wenn er weder gelangweilt noch überfordert ist.“ Und das Level, ab dem man überfordert ist, liegt bei hochsensiblen Menschen niedriger. Da wir also schneller in Stress geraten und noch dazu in einer Umgebung zurecht kommen müssen, die für den Bevölkerungsdurchschnitt gemacht ist und für uns oft schon zu laut, zu bunt und zu hektisch ist, ist es für Hochsensible besonders wichtig, eine hohe Kompetenz, was Stressbewältigung betrifft, aufzubauen. Ich bin in meinem Urlaub auf ein in dieser Hinsicht sehr hilfreiches Buch des Stressforschers Gert Kaluza gestoßen: Gelassen und sicher im Stress: Das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen*. Meine wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Buch möchte ich in diesem Blog-Artikel vorstellen.
Die Stress-Trias
Wenn wir umgangssprachlich von Stress sprechen, meinen wir meist äußere Umstände, in die wir hineingeraten und die uns dann in Stress bringen. Doch in Wirklichkeit ist das nur ein Aspekt von Stress. Um das zu verdeutlichen, vergegenwärtige dir einmal ein paar Situationen, in denen Du kürzlich in Stress geraten bist, und vervollständige dann folgende Satzanfänge:
- Ich gerate in Stress, wenn…
- Wenn ich im Stress bin, dann…
- Ich setze mich selbst unter Stress, wenn…
I Stressoren
Der erste Satzanfang „Ich gerate in Stress, wenn…“ bezieht sich auf auf die Auslöser von Stress in Form von belastenden Bedingungen und Anforderungen, die von außen an uns herangetragen werden.
II Stressreaktion
Der zweite Satzanfang „Wenn ich im Stress bin, dann…“ zielt auf das ab, was mit uns geschieht, wenn wir in Stress geraten, also mit unseren Stressoren konfrontiert werden. Hier geht es um die körperlichen und psychischen Antworten, die unsere individuelle Stressreaktion ausmachen. Typische Stressreaktionen sind z.B. Nervosität, Reizbarkeit, kalte Hände und Füße, Druck auf dem Herzen, erhöhter Puls, Schweißausbrüche, Muskelverspannungen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche etc.
III Persönliche Einstellungen als Stressverstärker
Der dritte Satzanfang „Ich setze mich selbst unter Stress, wenn…“ spricht unsere persönlichen Einstellungen, Motive und inneren Haltungen an, mit denen wir an bestimmte Situationen herangehen. Diese sind häufig maßgeblich dafür, ob wir überhaupt in Stress geraten und wie heftig unsere Stressreaktionen ausfallen. Unsere persönlichen Stressverstärker stellen das Bindeglied zwischen den äußeren Belastungsfaktoren und unserer Stressreaktion dar.
Persönliche Stressverstärker können z.B. Perfektionismus sein, ein besonderes Streben nach Anerkennung, nicht delegieren können, ein erhöhtes Kontrollbedürfnis und eine mangelnde Akzeptanz der eigenen Grenzen, so dass man sich nicht genügend Pausen gönnt.
(Gelassen und sicher im Stress: Das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen*, Kindle Edition, Pos. 282ff)
Entwicklung einer dreifachen Stressbewältigungs-Kompetenz
Um deine Stressbewältigung zu verbessern, kannst du also an drei Punkten ansetzen:
- Meide Stressoren meiden, indem du deinen Alltag stressfreier gestaltet
- Mildere Stressreaktionen, indem du dich erholst und entspannst
- Erkenne deine persönlichen Stressverstärker und entwickle förderliche Einstellungen und Bewertungen
Hier hat jeder seine Stärken und Schwächen bei der Stressbewältigung. Ich persönlich hatte z.B. die beiden ersten Punkte schon recht gut erfüllt. Trotzdem beobachtete ich immer wieder, dass ich gestresst war, und konnte mir dies nicht wirklich erklären. Mir wurde dann klar, dass bei mir noch persönliche Stressverstärker am Wirken waren, so dass ich trotz solider Umsetzung der ersten beiden Punkte noch immer recht stressanfällig war. Dies zeigt auch, wie wichtig es ist, an allen drei Punkten anzusetzen. Alltagsoptimierung und Pausenmanagement allein reichen nämlich unter Umständen zur Stressbewältigung nicht aus.
Die 1. Säule der Stressbewältigung: Instrumentelles Stressmanagement
Beim instrumentellen Stressmanagement geht es darum, den Alltag stressfreier zu gestalten. Es zielt darauf ab, die Entstehung von Stress zu verhindern. Stressoren werden zur Stressbewältigung reduziert bzw. ganz ausgeschaltet. Beispiele für instrumentelles Stressmanagement sind:
- Fachliche Kompetenzen erweitern, um Überforderung zu verringern
- Organisatorische Verbesserungen
- Anderen Grenzen setzen, häufiger „nein“, „ohne mich“, „jetzt nicht“ sagen, klärende Gespräche führen
- Nach Unterstützung suchen, Hilfe holen, Netzwerke aufbauen
- Problemlösungskompetenzen entwickeln
Für das instrumentelle Stressmanagement zur Stressbewältigung werden drei Grundlagen benötigt:
- Eine Sachkompetenz, damit man die jeweiligen Aufgaben zielgerichtet erfüllen kann
- Eine sozial-kommunikative Kompetenz, um die nötigen Gespräche auch führen zu können. Mehr dazu findest Du z.B. in meinem Blog-Artikel In drei Schritten zu mehr Abgrenzung bei Hochsensibilität
- Die richtige Einstellung; wer sich z.B. für unentbehrlich hält, alles zu 100% machen möchte oder es allen recht machen will, wird an der Umsetzung scheitern. Mehr dazu s.u. bei der dritten Säule der Stressbewältigung
(Gelassen und sicher im Stress: Das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen*, Kindle Edition Pos. 1772ff])
Die 2. Säule der Stressbewältigung: Regeneratives Stressmanagement
Körperliche und seelische Stressreaktionen lassen sich nie ganz vermeiden. Das wäre auch gar nicht sinnvoll, da wir ein gewisses Maß an Stress brauchen: Ohne diesen Eu-Stress wäre uns langweilig und es wäre keine Weiterentwicklung möglich, für die wir gewisse Herausforderungen brauchen. Dennoch benötigen wir immer Strategien der Stressbewältigung, um körperliche Anspannung zu lösen und innere Anspannung und Nervosität abzubauen, um langfristig negative Stressfolgen zu lindern, die eigene Widerstandskraft gegenüber Belastungen zu erhalten und neue Energien aufzubauen. Beispiele für regeneratives Stressmanagement sind:
- Regelmäßiges Praktizieren von Entspannungstechniken; mehr dazu findest du hier
- Regelmäßige Bewegung, denn dabei baut man Stresshormone ab
- Eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung
- Pflege von Freundschaften und Kontakten
- Ausgleich durch Hobbys und Freizeitaktivitäten
- Die kleinen Dinge des Alltags genießen: z.B. Hochsensibel sein und sich grundlos gut fühlen
(Gelassen und sicher im Stress: Das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen*, Kindle Edition Pos. 1810f)
Die 3. Säule der Stressbewältigung: Mentales Stressmanagement
Unsere Gedanken und Einstellungen zu belastenden Ereignissen laufen meist recht schnell und völlig automatisch ab, so dass sie uns oftmals als einzig mögliche und „selbstverständliche“ Wahrheit erscheinen. So fällt es nicht immer leicht, einzusehen, dass unsere eigene Bewertung nur eine subjektive Möglichkeit unter vielen ist, wie die Dinge betrachtet werden können. An dieser Stelle dürfen wir aber zur Stressbewältigung gern von lieb gewonnenen Lebensmaximen, klaren Schuldzuweisungen und bequemen Denkmustern Abschied nehmen.
Persönliche Stressverstärker zeichnen sich dadurch aus, dass ein „Muss“ dahinter steckt: Ich „muss“ das zu 100% gut machen, ich „muss“ beliebt sein und es anderen recht machen, es „muss“ alles 100%ig sicher und kontrollierbar sein, ich „muss“ das jetzt durchhalten und darf deshalb nicht für mein Wohlbefinden sorgen, ich „muss“ das allein hinbekommen… Dadurch baut sich ein innerer Druck auf, der die Stressbewältigung behindert. In der Folge übersieht man die Freiräume zur Lebensgestaltung, die immer auch da sind.
Wichtig ist, sich zur Stressbewältigung diese persönlichen Stressverstärker bewusst zu machen, kritisch zu hinterfragen und in förderliche Einstellungen und Bewertungen zu transformieren. Beispiele für mentale Stressbewältigung sind:
- Perfektionistische Leistungsansprüche kritisch überprüfen und lernen, die eigenen Leistungsgrenzen zu akzeptieren
- Lernen, Schwierigkeiten nicht als Bedrohung, sondern stattdessen als Herausforderungen zu sehen
- Sich mit alltäglichen Aufgaben nicht so sehr zu identifizieren, sondern mehr innere Distanz zu wahren; mehr dazu in meinem Blogartikel Jeder ist ein Geschenk oder vom Wert des Menschen
- Sich darüber bewusst werden, was einem wirklich wichtig ist, und auf dieser Grundlage den Blick für das Wesentliche wahren
- Bewusst die eigenen Achtsamkeit auf die schönen Dinge, das Erfreuliche, Gelungene richten und dafür Dankbarkeit empfinden
- Distanz zu unangenehmen Gefühlen entwickeln; mehr dazu in meinem Blog-Artikel Hochsensibel – wenn uns Dinge zu nah gehen
- Von festen Vorstellungen und Erwartungen loslassen und die Realität akzeptieren
(Gelassen und sicher im Stress: Das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen* Kindle Edition Pos. 1793ff)
Meine Erfahrungen
Mir hat das Stressmodell von Kaluza viele neue Impulse zur Stressbewältigung gegeben. Ich denke, dass das gesamte Stressmanagement auf der dritten Säule beruht. Wenn jemand z.B. die eigenen Grenzen nicht anerkennt und sich keine Pausen gönnt, der wird es kaum durchhalten, regelmäßig Entspannungstechniken zu praktizieren. Diese Leute werden einfach total kribbelig, wenn sie still sitzen sollen. Oder wer meint, immer beliebt sein zu müssen, der wird kaum Grenzen setzen können, weil das dann angstbesetzt ist.
Es lohnt sich, zur Stressbewältigung einmal in der eigenen Kindheit nach diesen persönlichen Stressverstärkern zu forschen. Wozu wurde man von den eigenen Eltern oder anderen Bezugspersonen besonders angehalten? Dies geschah meist in guter Absicht, sie wollten uns bestimmte Werte vermitteln.
Meine Mutter z.B. legte großen Wert auf Ausdauer und Durchhaltevermögen. Das ist auch durchaus eine meiner Stärken und ist, richtig eingesetzt, ein Wert, der mich in vielerlei Hinsicht weiter gebracht hat. Dass dieser Wert bei mir übertrieben ausgeprägt vorhanden war, war mir bis zur Lektüre dieses Buches nicht bewusst.
Das hatte bei mir teils absurde Folgen: Denn dass man als hochsensibler Mensch 4 kurze und eine lange Pause täglich braucht, habe ich schon vor Jahren bei Elaine N. Aron gelesen. Ich habe das auch fleißig meinen Klienten nahe gelegt, bis mir nach einer Weile klar wurde, dass das für mich selbst genauso gilt. :-) In der Folge habe ich das mit den Pausen stoisch durchgehalten. Ich konnte aber nicht akzeptieren, wenn ich einmal länger Pause als „vorgeschrieben“ benötigte.
Erst 2017, nach der Lektüre dieses Buches, gab ich mir die Erlaubnis, dass ich Pausen machen darf, dass es mir gut gehen darf und ich für mein Wohlbefinden sorgen darf. Seitdem bin ich in der Lage, das so flexibel zu handhaben, wie ich es für meine Stressbewältigung brauche.
Das Buch von Gert Kaluza kann ich sehr empfehlen. Dort findest du noch viel mehr Handwerkszeug, um deine persönlichen Stressverstärker zu finden, z.B. einen ausführlichen Psycho-Test: Gelassen und sicher im Stress: Das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen*
Zurück zu hochsensibel sein
Herzlichen Dank auch für diesen Artikel und die Denkanstöße. Ich (Freiberuflerin) habe einen sehr stressigen Beruf und habe erkannt, dass die richtigen Pausen und das Erkennen möglicher Stressoren überlebenswichtig sind. Danke für die erneute Bestätigung.
Liebe Patricia,
super, dass Du Deine Pausen einhältst! Das wird Dir langfristig eine Menge Power bringen… Weiter so!
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara
Liebe Anne Barbara
Deinen Blog finde ich toll, ich lese seit fester darin und finde mich in vielen Punkten wieder . Ganz oft stecke ich auch in einem Hamsterrad aus Stress, dem Wunsch, es allen recht zu machen und Erschöpfung . Es gelingt mir mit viel Aufmerksamkeit manchmal ganz gut, Pausen zu machen und Nein zu sagen. Aber ich beobachte bei mir schon lange, dass ich die Fähigkeit verloren habe, echte Freude zu empfinden. Im Alltag mit Job und Kindern und Beziehung komme ich schon zurecht. Aber nichts freut mich mehr, das ist ganz verschüttet. Außer radikalen Fluchtphantasien fällt mir aber keine wirkliche Lösung ein. Hast Du vielleicht eine Idee für mich?
Liebe Grüße
Liebe Maria,
vielen Dank für Dein nettes Feedback! Was Du beschreibst, dass Du die Fähigkeit verloren hast, Freude zu haben, macht mir ein wenig Sorge, denn das ist ein typisches Burnout-Symptom. Was für Dich total wichtig ist, Abgrenzung zu lernen, damit Du besser nein sagst und Dir die Ruhe gönnst, die Du benötigst. Auf lange Sicht muss Dein Energielevel ausgeglichen sein! Wenn Du ständig mehr Energie verausgabst, als Dir eigentlich zur Verfügung steht, wirst Du langfristig gesehen krank. Mehr zum Thema Abgrenzung findest Du hier:
In drei Schritten zu mehr Abgrenzung bei Hochsensibilität
Ich hoffe, das hilft Dir erst einmal weiter, und wenn Du noch Fragen hast, immer gern! :-)
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara
Hallo Anne-Barbara,
Angeregt durch den Kommentar von Maria stellt sich mir die Frage nach dem Empfinden von Freude noch etwas anders:
Sie schrieb, bei ihr ist das Gefühl verschüttet, aber sie hatte es wohl früher. Bei mir ist es so, dass ich mich nicht erinnern kann, jemals rundum ausschließlich Freude gefühlt zu haben. Am nächsten ist da noch das Gefühl der Freude über eine bestandene Abschlussprüfung vor etlichen Jahren, getrübt allerdings dadurch, dass mein Exmann das als „unseren“ Verdienst betont hat, obwohl er weniger als nichts dazu beigetragen, sondern mich eher beim lernen behindert hatte.
Wie kann ich lernen, Freude zu empfinden, wenn ich das nie hatte?
Liebe Grüße Tatjana
Hallo Tatjana,
tut mir leid, dass es dir nicht leicht fällt, Freude zu empfinden! Es ist aber sehr gut, dass du doch etwas Freude empfunden hast, als du diese Abschlussprüfung bestanden hast. Du kannst die Nervenverbindungen, die für Freude zuständig sind, folgendermaßen stärken:
Gehe in die Erinnerung an die bestandene Abschlussprüfung. Achte auf das Gefühl der Freude und nimm dies dann voll und ganz in dich auf, wie einen Sternenregen, der in dich hineinregnet, oder eine warme Energie, die dich ganz und gar durchströmt.
Und wenn da auch Anteile sind, die sich noch nicht freuen können (Erinnerung an deinen Ex), ist das vollkommen o.k. Diese dürfen im Hintergrund deines Bewusstseins weiter existieren, während du im Vordergrund die Freude fühlst, wie einen Balsam für deine Seele.
Mache das 5 x täglich für 2 Minuten. So bekommt dein Gehirn immer wieder Impulse, die Nervenbahnen für Freude zu stärken. Nach 2-3 Wochen dürfte das schon wesentlich besser gehen.
Herzliche Grüße,
Anne-Barbara